Und sie reisten doch …

Getrieben von Fernweh und der Sehnsucht nach exotischen Ländern, überquerten einige DDR-Bürger mit List und Tücke auch angeblich unüberwindbare Grenzen. Doch erst der Mauerfall, heute vor 13 Jahren, erlaubte einen Blick auf den Eiffelturm

Ach, was sind wir doch gereist, und wie sind wir gereist, als wir noch gar nicht durften Heute tummeln sie sich wieder zufrieden am bulgarischen Goldstrand

von SABINE BERKING

Es musste ein Wolga sein, eine gebrauchte und möglichst billige Variante des russischen Benzinschluckers, unbedingt schwarz und nur aus Schwerin. Um ein solches Exemplar zu erwerben, fuhren Susanne und Andreas mehrmals von Leipzig in den Norden der DDR. Schwerin hatte zu DDR-Zeiten das Kennzeichen CD – wie Corps diplomatique!

Es war ein Masterreiseplan, ein genialer, wie wir alle meinten. Schwarzer Wolga, quasi diplomatisches Kennzeichen, dreitägiges Transitvisum von Polen über den ukrainischen Teil der Sowjetunion nach Rumänien. Nur wollten die beiden Medizinstudenten aus Leipzig 1981 gar nicht nach Rumänien, wie sie bei der Polizei angaben, sondern ab durch die sibirische Mitte zum Baikal, am besten gleich bis in die Mongolei. Die war nämlich so was wie das Timbuktu der ostdeutschen Weltenbummler.

Alles war illegal, denn auch im befreundeten Russland durfte der DDR-Bürger nicht einfach so rumreisen, und die Mongolei war sowieso tabu. Gleich nach dem Kauf des Autos wurde das Visum beantragt, um die Umschreibung des Kennzeichens zu umgehen. Einmal reisen, so weit man kommt. Einen Sommer lang. Sie kamen bis Odessa.

Dort wurden die beiden Piroggen essend auf den unteren Stufen der berühmten Treppe, die wir alle aus Eisensteins „Panzerkreuzer Potemkin“ kannten, von sowjetischen Milizionären stilvoll verhaftet und an die polnische Grenze zurückgeschickt.

Sie hatten Glück im Unglück, denn die Sowjets sahen von einer Meldung an die DDR-Behörden ab, die die angehenden Ärzte ihr Diplom gekostet hätte. Zu Hause in Leipzig waren sie Helden, Odessa klang zwar nicht so gut wie Tomsk oder Omsk, aber immer noch besser als Oberhof.

Ein anderer war noch mutiger. Er fuhr mit privater Einladung nach Moskau, ließ sich eine Zugfahrkarte bis an die mongolische Grenze kaufen und zuckelte mit der Transsib durch die Taiga. Bei Fragen seiner Mitreisenden gab er sich als Student aus Riga aus – wegen des deutschen Akzents. Die mongolische Grenze überquerte er nicht mit seinem mickrigen DDR-Personalausweis, sondern mit dem Sozialversicherungsausweis, einem passähnlichen Grünling mit Hammer, Ährenkranz und Sichel.

Die vielen Stempel ostdeutscher Polikliniken überzeugten die Grenzposten. So erkundete der Leipziger die Welt der Nomaden, erfreute sich deren Gastfreundschaft, nur die Ausreise mit dem Pseudopass sollte nicht mehr klappen. Der Student wurde der DDR-Botschaft übergeben, die ihn mit Interflug zurückbefördern ließ. Wegen Vergehens gegen die Passgesetze wurde der angehende Mediziner exmatrikuliert und musste noch jahrelang das Flugticket abbezahlen.

Unlängst hörte ich die Geschichte einer Gruppe abenteuerlustiger DDR-Bürger, die sich in Moskau Blauhemden anzogen und als FDJ-Freundschaftsgruppe durch die russische Provinz reisten. In jeder Stadt meldeten sie sich mit Gastgeschenken beim Komsomol-Chef, wurden beköstigt und logierten in den ersten Provinzhäusern. Bald machte die Kunde von den großzügigen Freunden aus der DDR, die stets Gegeneinladungen versprachen, die Runde – die Deutschen wurden empfangen wie Gogols Revisor.

Ach, was sind wir doch gereist, und wie sind wir gereist, als wir noch gar nicht reisen durften. Das Reisen war die Idée fixe, das Trauma jener Mauerkinder, die geboren wurden, als der Eiserne Vorhang fiel, und die in einem Land aufwuchsen, das seinen Bürgern ein hinreichend auskömmliches Leben bot, um Gedanken an Luxusreisen überhaupt zuzulassen.

Die provinzielle Langeweile im Schutzgehege DDR mit Fernsehguckloch in die freie Wildnis wurde zum Nährboden fürs Fernweh. Als ich mit meinen Schulfreunden in die Wanderjahre kam, die nach bürgerlicher Bildungsregel Lehrjahre sein sollen, sah ich mir neugierig die Weltkarte an, um herauszufinden, wo auch wir ein sonniges Arkadien oder ein düsteres Herz der Finsternis entdecken könnten, wo wir, ohne auszureisen – denn wir waren keine Dissidenten –, unseren Abenteuer- und Bildungsdurst stillen konnten.

Zwar wuchs in den 70ern und 80ern die Zahl der befreundeten sozialistischen Staaten geradezu epidemisch, doch rückte Hanoi deshalb nicht näher, blieb Pjöngjang so exotisch wie Paderborn, klang Kabul nicht viel anders als Kassel. Unerreichbar.

Den Kurs des Fernwehs kannten auch die ZK-Genossen. Mit Reisen nach Kuba oder Vietnam wurden Junggenossen für unliebsame Partei- und FDJ-Posten geködert und belohnt. Um Überzeugung ging es ja schon lange nicht mehr. Wenn die Glücklichen dann von ihren Fernreisen heimkehrten und von Geckos und verfallenen Kolonialhotels erzählten, konnten sie sich der leuchtenden Augen ihrer neidischen Zuhörer gewiss sein.

Reisen – eine Sache für furchtlose Draufgänger oder opportunistische Reisekader! Was blieb dem bescheidenen Rest? Statt Patagonien Pannonien, statt Tasmanien Transsilvanien, statt der Pyramiden die Beskiden. Es war die östliche Mitte Europas, die wir in den 70ern und 80ern baedekerfrei erwanderten, eher ahnungslos über Land und Leute, naiv im Hinblick auf die in der Geschichte blutgetränkte Erde und die mit ethnischer Zwietracht sich neu anfüllende Luft.

Erst kamen die Städte – Prag, Warschau, Budapest, Krakau, Danzig –, wo wir stundenlang in den Cafés Romane lesend oder Tagebuch schreibend Boheme spielten und doch nichts als ungeliebte, arme Wanderer waren, die nicht mit harter Währung zahlen konnten und in kleinen polnischen Bergzelten auf schäbigen Campingplätzen campierten. Auch deshalb bevorzugten wir bald die Landschaften – die von der tschechischen Kohleindustrie zum Besenstielwald verkümmerte Hohe Tatra, die melancholischen Masuren, die traurige pannonische Ebene.

Wir entdeckten die sterblichen Überreste der Donaumonarchie im Osten der Slowakei, das slowakische Paradies, die einstige Zips. Wer kennt sie schon, die oft geänderten Namen der lemurenhaften Städte, wer weiß schon, dass der größte Holzaltar der Welt im Zipser Städtchen Levoca steht.

In den 80er-Jahren wurde Rumänien zum Kultreiseziel, auch weil dort die in den anderen Ländern verfemte DDR-Mark noch gut im Kurs stand, die Berge hoch und das Meer groß waren. Mit Kaffee und Zigaretten der DDR-Marke Kent – die Analogie zu einer Westmarke war kalkuliert – fuhren wir mit dem Zug in das verarmte Bruderland. An der Grenze warteten Ceaușescus Soldaten mit aufgepflanzten Bajonetten, die – es waren schon die Jahre Gorbatschows – russischsprachige Bücher beschlagnahmten und uns zum Zwangsumtausch unserer schäbigen DDR-Mark gegen noch schäbigere rumänische Lei nötigten.

Ach, da fühlten wir uns wie der Westler an der Zonengrenze. Wir erwanderten den 100 Kilometer langen Kamm des Fogarasch-Gebirges, wir rasteten in von Siebenbürger Sachsen verlassenen Dörfern, in denen Roma-Kinder um Kaugummis bettelten. So reisten wir durch die in der Geschichte vergessenen Landschaften Osteuropas, an seine verloren gegangenen Anfänge und Enden und mancher gar noch weiter.

Dann fiel die Mauer. Im Januar 1990 fuhr ich letztmals per Bahn in ein Ausland. Ein österreichischer Bekannter hatte nach Wien geladen. Dort kämpften wir dann in Toiletten mit der Technik, suchten schweißgebadet die unsichtbaren Spülknöpfe, rangen in spiegelblanken Bädern mit komplizierten Armaturen. In einem solchen Wunderwerk der sanitären Technik brach ich mir die Nase und erlief Wien mit einem schwarzen Brillenhämatom um die Augen.

Doch auch die Westler mussten leiden. So ereilte einen westfälischen Familienvater der Vereinigungsschock mit einiger Verspätung Mitte der 90er-Jahre in einem All-inclusive-Ressort im mexikanischen Puerto Vallarta.

Um den schönen Hotelpool nichts als sächselnde Ossis. „Wolln Se ooch ne Bina Gulada?“ Für den Wessi war Mexiko gelaufen: „Da fliegt man um die halbe Welt, um mit einer Horde Ossis am Pool zu liegen!“

Dass „der Sachse das Reisen liebt“, besang in den 80ern der Leipziger Kabarettist Hart. Der harmlose Song avancierte zum Politikum und zur heimlichen Nationalhymne der mehrheitlich sächsischen DDR-Bürger.

Das Reisen war die Obsession der Ostdeutschen, der Gedanke, zu sterben, ohne den Eiffelturm gesehen zu haben, trieb sie erst in die kollektive Schwermut und dann in die nationale Revolte. Die Rumänen rebellierten für Brot, die Polen für den Glauben, die Tschechen für die Demokratie und die Ostdeutschen – ich wage, es zu behaupten – für die Pauschalreise nach Gran Canaria. In keinem anderen Ostblockland wurde die Reisefreiheit zum Thema im Kampf gegen die totalitäre Diktatur.

Nach der Maueröffnung fuhren die Ossis im Kollektiv mit Billiganbietern nach Paris und Rom und individuell mit dem Trabi nach Sizilien – go, Trabi, go. Dann entdeckten sie Mallorca, Griechenland, die Karibik und sonstige Fernen.

Heute tummeln sie sich wieder zufrieden am bulgarischen Goldstrand, in Ungarn und im Riesengebirge – es muss eben nicht immer Kaviar sein. Keine Angst, die Toskana, die könnt ihr behalten.