Trauer um die Tochter reicht nicht

Nachdem ihre Tochter getötet wurde, muss eine Mutter gegen bürokratische Hemmnisse kämpfen – eine Versorgung nach dem Opferentschädigungsgesetz wird wegen mangelnder „Nähe“ verweigert. Ihr Fehler: Sie war bei der Gewalttat nicht dabei

von KLAUS WITTMANN

Im März 2001 schockte der Fall der kleinen „Tatanka“ die Öffentlichkeit. Der Lebensgefährte einer allein erziehenden Mutter aus Augsburg war mit der 3-Jährigen nach Ulm gefahren und hatte dort das Mädchen, weil es ihn genervt hatte, in einen See geworfen und ertrinken lassen. Seelenruhig ging der inzwischen zu zehn Jahren Psychiatrie verurteilte 26-Jährige danach in ein Schnellrestaurant zum Essen. Die Mutter hat noch immer erhebliche psychische Probleme. Tamara T. muss nicht nur den Tod ihrer Tochter verarbeiten. Jetzt hat sie auch noch mit der Bürokratie zu kämpfen. Und wie.

Ihre Anwältin spricht von einen schier unglaublichen Rechtsstreit. „Wir haben Versorgungsansprüche nach dem Opferentschädigungsgesetz gestellt und die wurden vom Versorgungsamt Ulm abgelehnt.“ Unvorstellbar seien die Gründe für diese Ablehnung. „Ihr wurde mitgeteilt, leider waren Sie in Augsburg, als Ihre Tochter getötet wurde, damit fehlt es an der gewissen Nähe.“ Deshalb wurde die Opferentschädigung, sprich eine kleine monatliche Rente, verweigert. Frau T. habe Widerspruch beim Landesversorgungsamt Baden-Württemberg eingereicht und auch dort eine Ablehnung bekommen. Bezug genommen haben die beiden Ämter auf ein umstrittenes Rundschreiben des Bundesarbeits- und -sozialministeriums vom Dezember 1996. Dort wird zur Durchführung des Opferentschädigungsgesetzes (OEG) ausgeführt, dass den vermehrten Ansprüchen und einem „unkontrollierten Ausufern des anspruchsberechtigten Personenkreises“ entgegenzuwirken sei.

Unter anderem heißt es im „Bundesversorgungsblatt ISSN 0407-9132“: „Um die Schädigungskette nicht ins Endlose laufen zu lassen, muss zwischen Schädigungstatbestand und dem Schaden beim Dritten eine ‚gewisse Nähe‘ bestehen. Diese setzt einen unmittelbaren örtlichen und zeitlichen Zusammenhang voraus: das Überbringen einer Todesnachricht reicht dazu nicht.“ Das Ulmer Versorgungsamt sah nun diese „gewisse Nähe“ nicht als gegeben an und verweigerte die Entschädigung.

Fassungslos habe die Mutter von Tatanka darauf reagiert, sagt ihre Anwältin. Vier Monate habe sie nach dem Tod ihrer Tochter in einer Nervenklinik zugebracht. Ihren Job habe sie verloren und lebe von Sozialhilfe. „Die pure Kälte, dass man ihr quasi vorhält, Sie waren nicht dabei, Sie haben sich – so heißt das da unterschwellig – nicht um ihre Tochter gekümmert“, sei das Unfassbare.

Nun ist der Fall beim Sozialgericht Augsburg anhängig. Dort, so der zuständige Richter, sei man derzeit mit den Ermittlungen befasst und erwäge, ein medizinisches Gutachten zum Gesundheitszustand der klageführenden Mutter einzuholen. Dass das Bundessozialgericht (BSG) in ähnlich gelagerten Fällen zu Gunsten der Angehörigen entschied, ist auch hier bekannt.

Der Sprecher des höchsten Sozialgerichts, Ulrich Steinwedel, erklärt: „Das Bundessozialgericht hat in einem Urteil 1979 gesagt, eine Mutter, die aufgrund der Nachricht von der Ermordung ihres Kindes einen Schockschaden in Gestalt einer dauernden psychischen Gesundheitsstörung erleidet, hat Anspruch auf Entschädigung nach dem Opferentschädigungsgesetz.“

Diese Rechtsprechung ist auch in Ulm bekannt, doch dort zeigt man sich davon wenig beeindruckt. Die Leiterin des Versorgungsamtes, Dagmar Helbig, sagte, sie könne sich zum konkreten Einzelfall aus datenschutzrechtlichen Gründen nicht äußern. Es sei allerdings so, dass ihre Behörde an Urteile des Sozialgerichts nicht gebunden sei. Vielmehr beziehe sie sich auf das Bundesversorgungsblatt von 1996. Dieses lasse aber jegliche Menschlichkeit vermissen, kritisiert die Anwältin der Mutter.

Auch der Richter am Bundessozialgericht und Pressesprecher Ulrich Steinwedel ist sich der kaum nachvollziehbaren Härte darauf basierender Bescheide bewusst. Weil zu erwarten sei, dass der Fall beim BSG landet, könne er sich nicht im Detail äußern. Steinwedel bestätigt jedoch, dass sich das Bundesgericht bereits zum Rundschreiben aus dem Arbeits- und Sozialministerium geäußert habe – und zwar sehr kritisch. „Solche Rundschreiben sind für die Rechtsprechung nicht verbindlich und das Bundessozialgericht hat auch in einem neueren Urteil vom vergangenen Jahr in Zweifel gezogen, ob alles das auch vom Ergebnis her richtig ist, was in dem Rundschreiben drinsteht.“