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I am from the river, you know

Eine taz-Mitbegründerin besuchte im vergangenen September Kate Millett auf ihrer Farm in Poughkeepsiebei New York. Ein Roadmovie und eine Hommage an eine Frau, die immer noch da ist

von ANNETTE ECKERT

1. September 2001. Nachts komme ich am J.F.K.-Airport an, nehme eine Taxe, um, wie verabredet, in die Bowery im südlichen Manhattan zu fahren – keiner da! Gut, dann eben ein Hotel. Der Taxifahrer ist erleichtert: Eine Lady wie ich solle in einem besseren Viertel als im Lower East Side Quartier suchen. Meine Dollarreserve ist erschöpft, und die Wechselstube hatte schon geschlossen.

Die Fahrt zur Stadt kostet einheitlich 35 US-Dollar. Der Taxifahrer wartet unten, ich besichtige die Zimmer. Wenn kalter Rauch vor sich hin stinkt oder das Zimmer zu dreckig ausschaut, fährt er mich weiter. Nach weiteren zwanzig Minuten bin ich einigermaßen zufrieden. 96 US-Dollar sind ein prima Preis für das Zimmer mit Dusche, ich buche für zwei Nächte. Telefonkarte, Bus nach Poughkeepsie oder Bahn, Lothar Baumgarten erreichen! Auch den Russen, den berühmten jüdischen Russen, der mir später seine Theorie des Anschlags erklären will.

Die von mir angewählten Telefonapparate in New York bleiben alle stumm. Später klärt sich, die Vorwahlnummern haben sich geändert. Am zweiten Abend erreiche ich schließlich eine Verabredung mit dem Russen. Der schwört als Transportmittel auf den Bus, um nach Poughkeepsie zu fahren, das sei am billigsten und am schnellsten. Später weiß ich, nur der Zug fährt die ganze Strecke am Hudson entlang, hält beinah an jeder Station.

In Poughkeepsie nehme ich wieder ein Taxi. Der Fahrer erkundigt sich über Funk an jeder Straßenkreuzung, wo die Old Overlook Road ist. Guckt sich um, sieht den Haufen Holz, zwei Wagen, ein angedetschtes Cabriolet. Eindringlich fragt er, ob es mein Ernst sei, hier bleiben zu wollen. Das Schild „Millett Farm“ habe ich inzwischen entdeckt. Ja, ganz sicher!

Kein Mensch weit und breit? Ich laufe um das Haus, im letzten Drittel des lang gestreckten Farmhauses höre ich Geschirrgeklapper, die Küche. Die Frau dreht sich nicht um. Sie fragt: „Are you expected?“„Yes!“ Ich verschwinde, lege mich auf den Bootssteg, der See blüht grün, die Sonne sticht, ich sehe in den dunkelblauen wolkenlosen Himmel. Die Eiche zeigt in der Krone erste rotgelbe Blätter.

Sie bewegt sich langsam. Seit einem Autounfall vor Jahren lebt sie keinen Tag ohne Rückenschmerzen. Das abendliche Bad im See, direkt hinter dem Haupthaus gelegen, bringt ihr Erleichterung. Der Sommer geht dem Ende entgegen, die Arbeit auf der Farm ist für dieses Jahr beendet. Junge Menschen streichen die Wände der Häuser und Schuppen neu. Mit einer großen Geste weist sie über alle Bäume und Sträucher, über den See, bis zur neuen Pferdekoppel, alles selber angelegt!

Seit zwanzig Jahren besitzt Kate Millett in Poughkeepsie im Bundesstaat New York eine Farm, auf der sie Tannenbäume anpflanzt und jungen Künstlerinnen Arbeitsplätze anbietet. Die jungen Frauen, die im Sommer die Farm besuchen, zahlen achtzig US-Dollar pro Woche. Sie arbeiten vier Stunden am Tag für die Farm, meist stutzen sie die Tannen zu Weihnachtsbäumen, die ab November auf Märkten verkauft oder auf Bestellung versandt werden. Den Rest des Tages arbeiten sie an ihrer eigenen Kunst.

Heute beschwert sich Kate Millett: Die jungen Dinger wollen am Abend keine Gespräche über Kunst, Literatur, Kino, Film, Politik, Gefängnis, Missbrauch, Gerechtigkeit führen; sie essen – obwohl bestens gekocht wird – meist Diät.

Köchin und Chefin bekunden ihr Unverständnis, die harte Arbeit des Tages widerspreche den Diätvorstellungen der Frauen. Eben junge, reiche Amerikanerinnen, die sich beschweren, wenn der Tischler ein Mann ist.

Im vergangenen Jahr hat es mit den Baumbestellungen richtig gut geklappt, die Farm kann inzwischen sowohl Kate Millett ernähren als auch die nötigen Instandhaltungskosten erwirtschaften. Um das Farmhaus aufzustocken, will sie bei Christie‘s den Louis-Seize-Schreibtisch ihrer Tante versteigern lassen. „Damit ich auf ihm ein Buch schreiben kann, ist er ist ohnehin zu klein“, sagt sie.

Sie bereitet sich auf ihren Urlaub vor, den sie seit vierzig Jahren im September in Provincetown, Cape Cod, verbringt. Zehn Tage schreiben heißt das Rezept des Urlaubs. Sie überarbeitet ein nächstes Buch. Eine Darstellung der Tante, einer Schwester der Mutter, ein bissig-ätzendes Buch, was ihr viel Kopf- und Herzzerbrechen bereitet.

9. September 2001. Wir fahren von der Farm sechshundert Meilen nach Norden bis Provincetown. Der Ort ist eine Oase für alle Lesbians & Gays. Das Licht in P-Town, so der Spitzname, ist weltberühmt. Viele große amerikanische Maler und Intellektuelle haben hier einen unvergesslichen Eindruck von Licht, Farbe und Luft erlebt. Schreiben und Malen sind sozusagen Pflicht! Immer wieder hält auf dem Fahrrad jemand an, um sie zu fragen, wie lange sie bleibt, ob es ihr gut geht. Auch hier trifft sie politische Aktivisten.

Provincetown ist teuer, auch in der Nachsaison. Wir sind Selbstversorger, eine angenehme Art der Unabhängigkeit von Cafés und Restaurants. Die erste Runde im Dorf führt durch die Galerien. Der Galerist der Boathouse Gallery studierte in Berlin zur selben Zeit wie ich, er bei den Kunstpädagogen, ich an der Abteilung I: Freie Malerei. Wir tauschen Namen, Orte, er verließ Deutschland 1978. Ich gründete zu der Zeit mit anderen die taz.

Er führt seit zwei Jahren die Galerie und bietet mir an, bei ihm auszustellen. Meine Aquarelle finden hier einen guten Platz. Wir verabreden die Konditionen. Ich denke an all die berühmten MalerInnen, die ihre Karriere hier begonnen haben. Mir wird schwindelig, aber man muss ja nicht berühmt werden. Kate Millett sagt, ihre schlimmste Zeit sei die Zeit gewesen, als sie berühmt war. Ich beruhige mich wieder und verfolge meine Idee weiter.

Provincetown erreichen wir tief in der Nacht. „Privat!“ steht auf einem Schild. Wir werden willkommen geheißen durch kleine gelbe Zettel, gepiekt an die vergitterten Holztüren: „K.M. Welcome!“ und „For the ami de K.M.“ Jacques ist Franzose. Er betreut seit Jahren die angereisten Freunde der Hauseigentümerin, war Mönch und schützt Kate Millett vor allen, die sie sehen und sprechen möchten. Später begreife ich, dass er die Balance hält zwischen dem Bemühen, kein Laufjunge zu sein, und dem Bemühen, ihr alles so angenehm und gerecht wie möglich zu machen. Sein wunderschöner Humor endete am 11. September abrupt.

Nachsaison heißt in P-Town keineswegs, frei von Parkplatzsorgen zu sein. In der Nacht der Ankunft parke ich nach dem Ausladen – eigene Arbeiten, Einkaufstüten, Sonnenhüte – einfach außerhalb der Ladezone. Am 11. September schleppen sie vor 9 Uhr morgens den Wagen ab. Kate Millett zieht laut pöbelnd zur zuständigen Polizei.

Vergessen das Abschleppen, vergessen die Behörde, vergessen die Sonne, die Luft, die Ferien. Jacques zieht die Flagge auf Halbmast, wo sie bis zu unserer Abfahrt bleibt. Ich gehe die große Straße runter zum Cyber Café, E-Mail schreiben: Ich bin nicht in der Stadt New York! Das Café ist für alle geöffnet, wir können kostenfrei e-mailen in der ersten halben Stunde. Aber wir können alle keinen Kontakt herstellen.

Furcht verstärkt. Auf einmal ist mir meine Fremdheit allgegenwärtig, der Humor verschwunden, das Wetter nebensächlich, die Aussicht schwarzweiß. Der Weltkriegsgedanke wird riesig groß in meinem Kopf. Dieses bisher unbekannte Gefühl im Herzen wächst und wächst. Das Visum gilt bis zum 30. September. Die Arbeit? Der Aufenthalt hier? Alles in Frage zu stellen, gelingt mir nicht. Auf der Straße kann ich nicht wirklich die Unruhe der anderen spüren. Ich frage mich warum.

Löst der Gedanke an Kriegserfahrung als gespeicherte Information in den Körperzellen bei den Europäern andere Gefühle aus, als die der Ferien machenden, Eis essenden, vor sich hin schlendernden amerikanischen Menschen? Oder kann ich anderes nicht wirklich wahrnehmen? Auf der Straße, plötzlich ein anderer Gedanke. Die Amerikaner erinnern keinen Krieg in Amerika! Kriege werden seit geraumer Zeit auf fremdem Territorium geführt. Und wie wird dieser Krieg geführt werden? Ich fühle eine nie erlebte Ohnmacht.

Ich komme zurück. Kate Millett steht auf der Terrasse, blickt aufs Meer, hat einen Drink in der Hand. Sie redet als Erstes über den abgeschleppten Wagen. Wie viel das kostet und wie oft ihr’s schon geschah. Wir vergleichen die Preise für das Abschleppens, was ist noch teurer als Abschleppen? Es will kein Sarkasmus, kein Humor, kein Zynismus aufkommen. Wie unwichtig anlässlich der Ereignisse. Und dann?

Sie fragt, wütend: „Warum werden die Häuser so hoch gebaut, dass jede Rettung unmöglich ist? Wer macht die Architekten verantwortlich? Warum gibt es keinen Katastrophenplan für Bauten dieser Art? Wer so hoch baut, muss an Konsequenzen für die Menschen denken! Und jetzt ist das Empire State Building wieder das höchste Gebäude!“

Die Aufzüge waren blockiert, die Menschen sprangen aus den Fenstern. Das Bild ist am nächsten Tag in der New York Times. Das trifft mitten ins Herz. Sie beginnt die Zeitungen zu sammeln, morgens um acht Uhr ausverkauft! – mit New York telefonieren – die Nächsten erreichen – erfragen, ob alle gesund sind – nicht unmittelbar betroffen! In New York vermissen die Freundinnen niemanden persönlich. Die Köchin der Millett Farm sollte einen Tag später eine Arbeit im World Trade Center beginnen. Ihr fehlen alle Wort, alle Nerven, um zu beschreiben, wie es ihr geht.

Und dann? Die Medien sagen: die Taliban, Bin Laden. Bei den überstürzenden Ereignissen bleibt auch bei Kate Millett der Verdacht an den Taliban hängen. Die jungen Soldaten kennen keine Frauen, sie werden von hysterisch-religiösen Militärs erzogen. Dadurch werden die Gefühle, die Wahrnehmung, das ganze Verhalten so verändert, wie man sich das kaum klarmachen kann. „Die afghanische Initiative der Frauen, Rawa, muss noch stärker unterstützt werden“, sagt sie. „Gender War“ findet nicht nur in Afghanistan statt.

Wir ziehen um. Wir fahren von Provincetown über Boston nach Magnolia. Kate Millett mag keine Highways, das bedeutet für mich, nachts durch die unbekannte Stadt Boston zu fahren. Die Hinweisschilder sind spärlich, sie fragt am liebsten Menschen nach dem Weg. Sie hat Boston immer nur aus der Perspektive von Flugzeugen und Konferenzkurztrips erfahren. Nun ist sie froh: Boston bei Nacht!

Quer durch die Innenstadt. Mitten im heftigen Verkehr sieht sie einen Laden, dessen Besitzer offensichtlich gerade schließen wollen, die ganze Familie steht auf der Straße. Kate Millett fragt das kleine Mädchen nach dem Weg, der ältere Bruder kommt hinzu, will das kleine Mädchen mit einer Geste wegschicken. „Sie weiß das nicht!“ – „Oh doch, sie weiß!“, sagt Millett und beharrt auf den wegweisenden Straßenkenntnissen der Kleinen. Mit fällt Alice Miller ein: Was geschieht durch die Erfahrung einer „wissenden Zeugin“? Hier geschieht überhaupt nichts Theoretisches, wir verhalten uns täglich konkret.

Wir sehen die Flaggen. Auf den Autos, auf den Wagen, auf den Lastwagen, auf den Trucks, in den Schaufenstern, zwischen Eingangssäulen der Haupteingänge aller offiziellen Staatsgebäude. Sie nehmen ganze Stockwerke in Besitz, zweistöckig, strassbesetzt, nachts blinkend. Die Flagge scheint die Individualität der Menschen zu ersetzen.

Zeitung und Fernsehen tragen die Ereignisse in den letzten Winkel des Landes. Zwischen dem Verlust jedes Vertrauens ins männliche Hirn – wir sind der Überzeugung, nur Männer können diese Tat planen und durchführen – und dem Entsetzen über die politischen Folgen dieser Tat wird es immer schwieriger, sich den CNN-Darstellungen zu entziehen.

Der Patriotismus bemächtigt sich der Tat, er beginnt die Trauer zu feiern. Die Schwierigkeit, überhaupt noch etwas Kritisches zu sagen, wird immer größer. Ich wandele mich mehr und mehr zur Europäerin. Um uns herum wachsen sowohl falsche Gefühle, wie wichtige & richtige Anteilnahme. Erleichtert höre ich die Frage, wann denn die Fahnen wieder abgenommen werden? Mary Ann Anderson stellt Kate Millett die Frage, was und wie lange schon die amerikanischen Politik menschenvernichtende Praktiken überall in der Welt verursacht und ermöglicht hat, wie viel Menschen auf diese Weise ihr Leben verloren haben.

Wir fahren nach Gloucester, dem größten Fischereihafen der Ostküste, dem größten weltweiten Lobsterhandel. Morgens zwischen drei und vier wird die Ware aus den Schiffen in die Kühlräume geschafft. Riesige Kühlbecken, rauschendes Wasser. Eisberge, bedeckt mit Kühldecken, verbergen gelben und roten meterlangen toten Thunfisch. Die Transportlastwagen fahren von hinten an die Laderampe. In 24 Stunden findet die Delikatesse den Platz in Paris, New York und weltweiten Gourmetläden.

Früher, erzählt einer der Fischer, als noch kein Geld zu machen war mit Thunfisch, hätte er schon Thun gefischt. Er würde weiter machen, selbst wenn kein Geld mehr zu verdienen wäre. Da vorne, er deutet auf zwei große Fischkutter, hätten sich zwei gesund gestoßen. Er macht die passende Geste; er jagt nicht des Geldes wegen. Er fischt aus Leidenschaft.

Berge toter Heringe werden auf ein Schiff verladen – Köderfisch! Die ganze Bucht ist übersät mit kleinen roten, gelben, blauen Stöpseln, die auf dem Wasser schwimmen, Zeichen von Lobsterreusen. Alle drei Tage müssen die Körbe kontrolliert werden, ganz gleich, wie stark der Wind weht, welches Wetter herrscht. Nirgends eine Flagge. Wir kaufen drei Lobster, Mary Ann Anderson bringt mir bei, die Tiere zu hypnotisieren, bevor wir sie ins kochende Meerwasser werfen, auf diese Weise stöhnen sie nicht.

Kate Millett will ein kleines Motorboot kaufen, um auf dem Hudson zu schippern. Mary Ann Anderson hat schon begonnen, gelbe Seiten, Tagespresse und Fachpresse nach Schiffen zu durchstöbern. Meine Bedenken, ohne Bootsführerschein könne dies eine gefährliche Sache sein, wischt Kate Millett mit einem Ruck vom Tisch. „I am from the river, you know!?“

Wir finden ein Boot, das ihr gefällt. Besichtigung. Handel. Ohne Motor: nein? Mit Fischereiausstattung: ja? Nein, ohne. Wir gehen zum nächsten Boot. Viele streichen neu und verkaufen nach jeder Saison. Verkaufen teurer als sie kauften. Und Tschüss. In Amerika braucht niemand einen Bootsführerschein. Weder für Flüsse noch für den Ozean, werde ich belehrt. Wir finden das Lachen wieder.

Die Kneipe, der Gin, die Verkaufsverhandlungen, alles ihre Sache. Wir sollen den Mund halten, damit sie den Fischkutter unbemerkt von der Freundin nach Poughkeepsie transportieren kann. Nirgends vergisst sie die Mitbringsel für die Kids, die die Häuser streichen, und für die Köchin. Für die Rückfahrt packen wir Stunde um Stunde den Wagen, so viel hat sich in der Zwischenzeit angesammelt. Ein Teppich, die Gummistiefel und die Regencapes in vielen Größen, die unverkaufte Kunst in großen Mappen, der Rückspiegel muss frei bleiben!

Zurück auf der Farm, zu Hause, empfängt sie ihr Lieblingsessen, der richtige französische Wein, eine strahlende Köchin und präziser Nachrichtenhorror aus New York. Alle Feuerwehrmänner aus der Bowery sind tot.

Die Stadtverwaltung will die Bowery 295, Kate Milletts Haus in New York, abreißen lassen. Es sollen keine Verhandlungen mehr stattfinden. Sie wollen einen endgültigen Schlussstrich, einen nicht anfechtbaren Gerichtsbeschluss. Das Datum steht fest. Sophie Keis, Freundin von Millett, unterstützt die Arbeit gemeinsam mit der Nachbarschaft. Sie sammelt Unterschriften, richtet eine E-Mail-Solidaritätsadresse ein, verhandelt mit Anwälten, baut strategische Verteidigung auf, braucht Unterstützung im Kampf um dieses Haus.

Kate Millett bleibt auf der Farm bis zum Verhandlungstag, die Harfenistin Myra gibt ein Konzert und präsentiert ihre erste CD; ich verspreche wieder zu kommen und freue mich auf New York.

Die Zeit vergeht schnell. Meine Abreise naht, in New York darf die Unglücksstelle nicht fotografiert werden, ich gehe durch die Straßen. Vor den Feuerwehrwachen Kerzen, viele Blumen. An den Gebäudewänden der Universität kleben Fotos und Beschreibungen der Vermissten. Die Zahl nimmt jeden Tag ab. Die Stadt riecht wie ein nasser Aschenbecher.

Beinahe alle Wagen fahren geflaggt, sowohl auf den Highways wie in den Straßen von New York. Ein Schaufenster ist mit geschmierter Fettkreide als Flagge bemalt. In Supermärkten gibt es Flaggen in allen Größen & Preislagen. Fahnen werden ununterbrochen gekauft, geschwenkt, aufgehängt. Die New York Times druckt eine Seite Flagge jeden Tag, wer nicht kaufen kann, aber auch Flagge zeigen will, kann sie benutzen. Yoko Ono schaltet eine ganze Anzeigenseite „Imagine …“.

In einem Laden auf der 2. Avenue sehe ich in der Auslage ein T-Shirt mit der Strichzeichnung eines grinsenden Piratenköpfchens, das rote Tuch schräg gewickelt und über dem rechten Ohr geknotet, darunter steht: Take the life from the wild side. Unverkäuflich!

In den Parks füttern Schwarze graue zutrauliche Eichhörnchen, sie fressen aus der Hand. Auch hier Mengen von Kerzen & Blumen, wie an den Wachen der Feuerwehrmänner. Die verwelkten Blumen bleiben stehen, jeden Tag kommen neue hinzu. Vermischt mit der Rauchluft müsste Maud ein neues Geruchsgemisch mixen, um Harald New Yorker Luft im September riechen zu lassen, anstatt den ersten Schnee in New York. Die Feuchtigkeit, der Regen machen alles noch viel schlimmer, viele laufen mit Masken vor dem Gesicht herum.

Die Eröffnung der Show von Gerhard Richter fällt spärlich aus – nur wenige kommen zu Vernissagen. Es beginnt sich zu teilen, manche erzählen sich Witze. Das Gefühl sagt mir, die erste Friedensdemonstration ist irgendwo hier in der Stadt schon in Vorbereitung, nur die Medien berichten nicht.

Ich maile Greta Kargo, die in Afghanistan ihren Film von einer großen Liebe drehen will. Sie weigert sich – auf eine ähnliche Weise wie ich –, alle gesendeten Nachrichten zu glauben. Hat direkten Faxkontakt. Ihr Anliegen, die afghanischen Frauen in den Mittelpunkt ihres Films zu stellen, gefällt Kate Millett. Sie verspricht, mir ihren Text zum 11. September zu schicken.

Wir verabschieden uns, wir versichern uns gegenseitig, eine wirklich gute Zeit miteinander verbracht zu haben. Ich entschuldige mich, keine gute Begleitung in den Bars nachts gewesen zu sein. Da hätte ich ihr jemanden Besseres gewünscht. Jemanden, der Spaß hat zu rauchen und zu trinken bis in die Morgenstunden.

Berlin. Als Erstes bringe ich die restlichen Filme zum Entwickeln. Im Kaufhaus sammeln zerknitterte Gesichter mit Mitleid heischenden Gebärden für Amerika. Michael Gorbatschow spricht in einem Interview von amerikanischen Flugzeugen, die ins World Trade Center rasten. Bush Jr. beginnt 21 Tage später die Bombardierung Afghanistans.

Auf dem Leipziger Festival für Dokumentar- und Animationsfilm bemerkt Volker Schlöndorff anlässlich der Weltpremiere von Gerd Conradts Film „Starbuck – Holger Meins“ und einer anschließenden Diskussion: Warum soll ich mich distanzieren?

Wer hat gesagt, ich hätte mich identifiziert?

ANNETTE ECKERT, Autorin, Fotografin, Ausstellungsmacherin und Feministin, ist Mitbegründerin der taz und lebt in Berlin

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