Champions League Inter gegen Bayern: Wille, Fantasie oder Phlegma

Champions-League-Titelverteidiger Inter Mailand verbreitet längst keinen Schrecken mehr. Der FC Bayern trifft im Achtelfinale auf eine Mannschaft in der Sinnfindungsphase.

Samuel Eto'o hat diese Saison für Inter in 35 Spielen 27 Tore geschossen. Bild: dapd

MAILAND taz | Leo Trotzki hätte seine Freude am Werk seines Namensvetters Leonardo Nascimento de Araújo. So wie der in Mexiko vom Eispickel erschlagene Rote-Armee-Gründer die permanente Revolution gefordert hat, so konsequent bemüht sich der vom Berlusconi-Angestellten zum Berlusconi-Kritiker mutierte Brasilianer um einen permanenten Stilwandel bei Inter Mailand.

Zwar unterscheidet sich der Kader beim heutigen Achtelfinalspiel nur unwesentlich von jenem, der im letzten Mai den Bayern den Griff zum Champions-League-Pott versagte. Nur Doppeltorschütze Diego Milito und Walter "die Wand" Samuel fehlen verletzungsbedingt. An Samuels Stelle wird der junge Innenverteidiger Andrea Ranocchia auflaufen. Der ist dank seiner beachtlichen Technik nicht auf den Schutzwallmodus beschränkt, sondern befleißigt sich des Öfteren der Spieleröffnung. Trotz der personellen Kontinuität hat sich der Charakter der Truppe aber fundamental gewandelt.

Wenig ist von der martialischen Kampfmaschine à la Mourinho übrig. Dieses nicht immer schöne, aber auf Europas Fußballplätzen Angst und Schrecken verbreitende Gebilde hat der Spanier Rafael Benitez schnell kaputtgekriegt. Er betrieb Anti-Mourinho-Voodoo und hängte alle Bilder des Portugiesen in der Geschäftsstelle ab. Daraufhin vergaßen die Spieler, was ihr alter Dompteur sie einst lehrte, und irrlichterten in den Taktikschemata, die Don Rafa ihnen aufgezeichnet, aber nicht so recht erklärt hatte, umher.

Dann kam Leo - und damit die Befreiung. Der Brasilianer warf als Weihnachtsgeschenk alle Taktikanweisungen weg und ließ die großen Jungen spielen. "Wir haben die Freude am Fußball wiedergefunden", strahlten Etoo und Maicon, Pandev und Zanetti um die Wette. Am heftigsten war der Wandel beim 37-jährigen Zanetti. Der etwas phlegmatisch gewordene Löcherstopfer entdeckte die Lust am Hackentrick wieder. An dem "4:2-Fantasie" getauften System, mit dem Leonardo in der Vorsaison schon die Juwelen des AC Mailand punktuell zum Glitzern gebracht hatte, berauschte sich nun auch das technisch etwas limitiertere Ensemble von Inter und fegte zu Jahresbeginn einen Gegner nach dem anderen vom Platz. "Fantasie" bedeutet, dass die vier Offensivkräfte sich nach Lust und Laune übers Spielfeld verteilen können und nicht allzu heftig nach hinten arbeiten müssen. Das System produzierte viele Tore, ließ aber auch ziemlich viele zu, wie das kuriose 5:3 gegen Vizemeister AS Rom am besten illustriert.

Ob Leonardo dann dem Perfektionsstreben verfiel, bei ihm die nackte Angst vor der entscheidenden Saisonphase einsetzte oder einfach die kreativen Quellen erschöpft waren, ist nicht zu ergründen. Es folgte jedenfalls Phase zwei mit massierter Defensive. Hinten fielen kaum noch Tore. Vorn aber auch nicht. Bis auf das 0:1 in Turin stimmten immerhin die Ergebnisse. Leonardo darf sich nach elf Ligaspielen nun als punktbester Inter-Trainer seit Einführung der 3-Punkte-Regel fühlen. 2,45 Zähler pro Spiel beträgt seine Ausbeute, Mourinho kam auf 2,18, Benitez auf 1,82.

Doch der Zauber vom Januar ist verflogen. Vereinzelt kam wenigstens die mentale Stärke aus fernen Mourinho-Tagen wieder zum Vorschein. Meist aber trabten die Akteure uninspiriert über den Rasen und konnten nur dank noch größerer Ideenlosigkeit ihrer Gegner sowie gütiger Hilfe manch Referees den Rückstand auf Tabellenführer Milan auf fünf von ursprünglich 13 Zählern verkürzen. Selbst der aus seinem postmondialen Erschöpfungstal wieder aufgetauchte Wesley Sneijder kann noch nicht so viel Impulse setzen, um die auf den Taktiktafeln bereits notierte Phase Leonardo drei - mit Offensivfeuerwerk und solider Defensive - einzuleiten.

Die Nerazzurri wirken anfälliger und fragiler als vor zwölf Monaten. Sie sind aber auch weniger berechenbar. Gegenwärtig können sie selbst nicht voraussagen, ob sie sich gleich in einen Spielrausch hineinsteigern werden oder wenigstens in einen Willensrausch oder doch nur behäbig über den Rasen trotten. Für Bayerntrainer Louis van Gaal ist das die schwerste aller Prüfungen. Der Holländer, der das Leben nur genießt, wenn es sich nach seinen Regieanweisungen vollzieht, muss seine Truppe auf einen Gegner einstellen, der sich selbst noch nicht einmal kennt.

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