Tod eines Ex-DDR-Fussballprofis: Kontaktgift im Kalten Krieg

Vor 25 Jahren starb der aus der DDR geflüchtete Lutz Eigendorf. Die Indizien, dass es ein Mordanschlag der Stasi war, mehren sich. Mancher glaubt, die alten Seilschaften bestehen bis heute.

März 1979. Der DDR-Nationalspieler Lutz Eigendorf setzt sich nach einem Freundschaftsspiel seines BFC Dynamo beim 1. FC Kaiserslautern in den Westen ab. In der DDR überwiegt Häme über den Stasi-Verein. "Der Eigendorf ist abgehaun, wie kann man da den Bullen trau'n?", singen Fans konkurrierender Klubs.

Nach einjähriger Spielsperre wird Eigendorf 1980 Profi in Kaiserslautern, später bei Eintracht Braunschweig. Derweil wird Eigendorfs Ehefrau Gabriele von 17 Stasi-Mitarbeitern kontrolliert: Ein Jugendfreund heiratet sie im MfS-Auftrag. Auf Eigendorf selbst sind im Westen vier Stasi-Mitarbeiter angesetzt.

5. März 1983. Nachmittags hatte Braunschweig gegen Bochum verloren, Eigendorf war nur Reservist gewesen. Hans Jäcker, damaliger Präsident von Eintracht Braunschweig, erinnert sich: "Ich wusste ja, dass er gerne über die Dörfer geht. Damit er nicht seiner depressiven Stimmung nachgibt, sagte ich: Bleib heute Abend zu Hause!" Eigendorf suchte zwei Kneipen auf, in jeder trank er vermutlich zwei kleine Bier: zuerst mit der Mannschaft, danach traf er sich mit seinem Fluglehrer, denn am nächsten Morgen wollte Eigendorf, der noch nicht lange den Flugschein hatte, seinen ersten Überlandflug - von Braunschweig nach Sylt - absolvieren. Um 22 Uhr gingen die zwei auseinander, um 23 Uhr wurde Eigendorf, der allein in seinem Alfa Romeo saß, auf einer Landstraße von einem entgegenkommenden Auto geblendet. Es trug ihn aus der Kurve, am 7. März verstarb er. Sein Blutalkoholgehalt wurde mit 2,2 Promille gemessen.

"Der Eigendorf ist abgehaun, wie kann man da den Bullen traun?" Bild: dpa

Kurz nach seinem Tod behauptete der Spielerberater Holger Klemme, auf Eigendorfs Wagen sei geschossen worden. Später ging bei Eintracht Braunschweig ein anonymes Schreiben ein: "Ist Ihnen bekannt, dass die Gestapo der ,DDR', der Stasi, überall seine Finger im Spiel hat? Lassen Sie das Fahrzeug Ihres tödlich verunglückten L. Eigendorf genau untersuchen, vor allem die Bremsanlagen. Einer, der Bescheid weiß! XYZ."

Die Staatsanwaltschaft fand nichts. Der zuständige Staatsanwalt Hans-Jürgen Grasemann sagt: "Es war für uns ein normaler Verkehrsunfall."

Doch 1990 kommt aus BND-Kreisen die Theorie auf, ein Kontaktgift sei auf die Türklinke von Eigendorfs Auto geschmiert worden, das habe ihn betäubt. Von 1994 stammt ein Bericht der Gauck-Behörde, nach dem in einem Vorgang namens "Sportverräter" 63 Personen von der Stasi "bearbeitet" worden seien, darunter Eigendorf. 2000 legt der WDR-Journalist Heribert Schwan den Film und das Buch "Tod dem Verräter" vor. Er beschreibt erstmals detailliert das Überwachungsnetz, das die Stasi um Eigendorf gesponnen hatte.

"Durch Zufall", wie Schwan sagt, fand er auch ein Dokument des MfS vom 19. September 1983. Handschriftlich steht dort: "Unfallstatistiken? von außen ohnmächtig? ,verblitzen', Eigendorf". Schwans Interpretation: Die Stasi hätte Eigendorf abends gekidnappt und zwangsalkoholisiert. Dann hätte sie den Verängstigten losfahren lassen, und vor der ohnehin unfallträchtigen Kurve habe man ihn noch "verblitzt".

Zweifel an der Mordthese bleiben. Uli Maslo, 1983 Eigendorfs Trainer in Braunschweig, hält die Verabredung zum Überlandflug am Sonntagmorgen für abwegig. "Am Sonntag nach einem Spiel hatten die Spieler, die auf der Bank gesessen hatten, um 9 Uhr Training. Da gehörte Lutz dazu." Auch von der Rekonstruktion des Unfalls ist Maslo nicht überzeugt: "Das ist mir zu unwahrscheinlich, dass er gerade in dieser Kurve abkommt und dass er dann ausgerechnet mit der Fahrerseite auf den Baum trifft."

Schwan sagt, aus Stasi-Sicht habe der Sinn des Anschlages darin bestanden, dass künftig Dynamo-Sportler abgeschreckt würden, sich in den Westen abzusetzen. Doch wie kann eine Abschreckung funktionieren, wenn der vermeintliche Mordanschlag als alkoholbedingter Unfall gilt? Jutta Braun, Sporthistorikerin an der Uni Potsdam, sieht in der behaupteten Abschreckungsfunktion "tatsächlich einen Widerspruch", verweist aber darauf, dass Mord- und Stasigerüchte schnell aufkamen: "Mielke mag das einkalkuliert haben." Zweifel formuliert Ingolf Pleil in seinem Buch "Mielke, Macht und Meisterschaft" (2001): "Sollte Mielke tatsächlich einen Mord angeordnet haben, blieb zumindest die erhoffte Abschreckung aus." Nur ein halbes Jahr nach Eigendorfs Tod setzen sich die DDR-Fußballer Falko Götz und Dirk Schlegel in den Westen ab.

Jutta Braun verweist auf den Trainer Jörg Berger, der wenige Tage nach Eigendorf geflohen war. Berger warnte später Götz und Schlegel, sich nicht so zu verhalten wie Eigendorf, "keine breiten Presseinterviews zu geben und über die DDR zu schimpfen, und sie haben sich dran gehalten. Das Gefühl der Bedrohung und Einschüchterung war also präsent", so Braun.

Die im Rahmen dieser Recherche befragten früheren BFC-Spieler wollen sich zum Fall Eigendorf nicht äußern. Journalisten der damaligen DDR, die eng mit dem BFC vertraut waren, glauben nicht, dass die Mannschaft etwas geahnt hat, wollen aber nicht zitiert werden. Und Falko Götz sagte 2004 der Berliner Morgenpost: "Lutz Eigendorf ist vor meiner Flucht verunglückt. Ich habe mich dazu öffentlich nie geäußert und möchte das auch weiterhin nicht tun. Ich denke, es gibt Seilschaften, die noch heute bestehen."

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.