Demokratieserie #12: Die Automatisierung der Beteiligung
Die Krise der Repräsentation ist aus linksradikaler Perspektive gar nicht so schlecht: Liquid Democracy könnte das Rätemodell von morgen sein.
Ein Gespenst geht um, nicht nur in Europa – die „Krise der Repräsentation“. In Lateinamerika sind im vergangenen Jahrzehnt in mehreren Ländern die Parteiensysteme kollabiert. In den USA steht die institutionelle Politik von links (Occupy) und rechts (Tea Party) unter Druck. In Finnland, Dänemark und den Niederlanden artikulieren heute rassistisch-populistische Parteien die Unzufriedenheit mit der real existierenden Demokratie, in Spanien hat die Frustration mit dem Parlamentarismus zum Entstehen einer breiten sozialen Bewegung geführt.
Und in Deutschland, wo man es gern etwas geordneter hat, gibt es immerhin die Piraten, die zwar angepasster sind, als sie selbst meinen, aber trotzdem eine Antwort auf die Sinnentleerung der politischen Verhältnisse darstellen.
Doch warum haben die parlamentarischen Systeme so stark an Integrationsfähigkeit eingebüßt? Und warum nehmen immer mehr Menschen eine wachsende Kluft zwischen formaldemokratischer Norm und gesellschaftlicher Realität wahr? In Deutschland wird an dieser Stelle gern auf die „Abgehobenheit der Berufspolitik“ verwiesen. Die These hat Stammtischniveau, aber ist doch nicht frei von jeder Wahrheit. Es spricht einiges dafür, dass professionelle Repräsentation zur Herausbildung eigenständiger sozialer Gruppen führt, die sich dann als Machteliten zu verfestigen suchen.
Dynamik der Bürokratie
Der (später zum italienischen Faschismus konvertierte) Parteiensoziologe Robert Michels postulierte bereits 1911 in einer Studie über die deutsche Vorkriegssozialdemokratie: Aus bürokratischer Arbeitsteilung erwachsen Macht- und Klienteldynamiken. Kommunistische Linke wie Nikolai Bucharin haben Michels’ „ehernem Gesetz der Oligarchie“ in der Folge zwar erbittert widersprochen, doch gerade die Geschichte des Realsozialismus zeigt, wie stark die Eigendynamik bürokratischer Prozesse ist.
Mit Organisationssoziologie allein lässt sich die Krise der Demokratie aber nicht erklären. Die spanische 15 M scheint in dieser Hinsicht klarer als das deutsche Piraten-Milieu. Eine der Grundthesen der im Vorfeld der Regionalwahlen 2011 entstandenen Bewegung lautete, dass es für die Sozial- und Wirtschaftspolitik völlig belanglos sei, ob nun Sozialisten oder Konservative in Madrid regierten. Dementsprechend kritisierte die 15 M denn auch weniger, dass der Politikbetrieb auf Distanz zur Gesellschaft gegangen sei, als vielmehr, dass eigentlich überhaupt gar keine Politik mehr stattfinde.
Das Interessante an dieser Position war (und ist), dass sie ähnlich wie in Lateinamerika den Protest gegen das politische System mit einer Opposition gegen den Neoliberalismus verzahnte.
Bisher erschienen: Paul Nolte, „Piraten, Wutbürger und etablierte Parteien“ (7. 4.); Micha Brumlik, „John Stuart Mill, Vordenker des Individualismus“ (17. 4.); Yanis Varoufakis, „Der Fall Griechenland: Wie gerecht ist die Finanzpolitik der EU?“ (23. 4.); Stefan Reinecke, „Aufstände in Zeiten der Postideologie“ (30. 4.); Sonja Vogel, „Kulturpolitik in Zeiten knapper Kassen“ (9. 5.); Boris Palmer, „Kopf oben, Bahnhof unten. Über den Umgang mit einem Wahlergebnis“ (23. 5.); Tania Martini, „David Graeber, neueste Rakete der Kapitalismuskritik“ (31. 5.); Moritz Ege, „Picaldi-Jeans: Wie demokratisch können Hosen sein?“ (9. 6.); Dirk Knipphals, „Weiß die Crowd, was gut für sie ist? Die Diskursfremdheit der Linken“ (16. 6.); Colin Crouch, „Für Märkte ist Demokratie komfortabel“ (23. 6.); Christian Werthschulte, „Grundeinkommen für Musiker“ (6. 7.).
Die Forderung nach „echter Demokratie jetzt“ ging mit einer Ablehnung des europäischen Krisenmanagements einher und äußerte sich beispielsweise als Widerstand gegen die Zwangsräumung gepfändeter Wohnungen. Um diese Verbindung zu begründen, griff die spanische Bewegung 15 M auf Positionen wie die des britischen Politologen Colin Crouch zurück, der die „Postdemokratie“ durch eine Diktatur von Finanzmärkten und Lobbys sowie den programmatischen Suizid der Sozialdemokratien charakterisiert sieht. Doch restlich überzeugen kann diese Argumentation nicht: Denn das Demokratieproblem im Kapitalismus ist weitaus älter als der Neoliberalismus.
Marx hat schon vor 150 Jahren behauptet, eines der grundlegenden Merkmale (und einer der Widersprüche) der bürgerlichen Gesellschaft bestehe darin, dass die politische und ökonomische Sphäre in ihr, anders als im Feudalismus, voneinander getrennt sind. Der Freiheitsimpuls der bürgerlichen Revolution bleibt so auf das Feld der Politik beschränkt. Zwar werden Rechtsgleichheit und politische Demokratie etabliert, doch gleichzeitig betrachtet die bürgerliche Revolution den Staat als Garanten sozialer und ökonomischer Ungleichheit. So konstituiert sich eine Politik, die auf die entscheidenden Machtprozesse in der Gesellschaft keinen Einfluss hat.
Die sozialistische Linke, als radikalster Flügel der Demokratiebewegung des 19. Jahrhunderts, hat deshalb Demokratie- und Eigentumsfrage dauerhaft miteinander verbunden. Als Gegenentwurf zur bürgerlichen Demokratie propagierte sie ein Rätemodell, wie es in der Pariser Kommune 1871 aufgeblitzt war. Anders als im parlamentarischen System waren hier alle Lebensbereiche – Produktion, Wohnen, Verteidigung usw. – demokratisiert worden. Zudem konnten die Delegierten, anders als Parlamentarier, von der Bevölkerung abberufen werden. Das „freie Mandat“, das von bürgerlichen Verfassungsvätern ganz bewusst als Puffer zwischen Staatsmacht und Pöbel etabliert worden war, sollte in der Rätedemokratie durch eine direkte Form des Mandats ersetzt werden.
Macht der Ökonomie
Auch wenn die sozialistischen Staaten, die sich das rätedemokratische Konzept rhetorisch zu eigen gemacht, ihm gegenüber aber stets ein funktionalistisches Verhältnis gepflegt hatten, die Räte-Idee nachhaltig diskreditiert haben, scheint mir die sozialistische Kritik nichts an Gültigkeit verloren zu haben. Das Problem der parlamentarischen Demokratie besteht nicht allein darin, dass sie durch bürokratische Abläufe deformiert wird, sondern auch darin, dass die auf das Feld der „Politik“ beschränkte Volkssouveränität in Anbetracht der ökonomischen Machtverhältnisse eine Farce bleiben muss.
Der Hinweis der US-Regierung während der Finanzkrise, die Großbanken seien too big to fail, kam dem Kern der Sache schon recht nahe: Kapitalinteressen sind zu mächtig, als dass politisch über sie entschieden werden dürfte.
Insofern kommt eine Demokratisierungsbewegung, die mehr will, als den politischen Betrieb vorübergehend aufzupeppen, an der Eigentumsfrage nicht vorbei. Kapital und Staat sind als soziale (Herrschafts-) Verhältnisse mächtigere Schranken der Demokratie als die Mechanismen der Berufspolitik.
Eine Antwort auf das sichtbarste praktische Demokratieproblem bleibt jedoch auch das Rätekonzept schuldig. Reale Demokratisierung ist nicht möglich ohne eine Partizipation der Vielen. Diese mag in Aufbruchsphasen – wie im vergangenen Sommer, als sich Zehntausende über Tage und Wochen in Spanien an Vollversammlungen beteiligten – möglich und für die Beteiligten sogar erfüllend sein. Doch was ist, wenn die Euphorie verflogen ist und die Organisation des Alltags wieder in den Vordergrund rückt?
Sämtliche sozialen Bewegungen haben gezeigt, dass Entscheidungsprozesse dann wieder von Aktivisten und „Experten“ monopolisiert werden. Vielleicht ist das in den Medien zuletzt so viel gescholtene Modell der Liquid Democracy dann doch interessanter, als es auf den ersten Blick scheint. Das Konzept schlägt vor, dass Bürger ihr Stimmrecht je nach Thema an Parteien oder Verbände delegieren oder selbst ausüben können. Auf diese Weise würden repräsentative, Verbands- und direkte Demokratie miteinander verschränkt: In außenpolitischen Fragen stimme ich selbst ab, bei Wirtschaftsthemen gebe ich meine Stimme einer Basisgewerkschaft, in Verwaltungsfragen traue ich einer Abgeordneten.
Modell direkter Teilhabe
Der Clou an der Idee ist, dass die Stimmabgabe jederzeit modifiziert werden kann. Jede/r entscheidet selbst, wie viel Zeit er/sie gerade für demokratische Teilhabe aufbringen will. Es stimmt, dass das Konzept noch nicht zu Ende gedacht ist: Wie will man umwelt-, sozial- und verwaltungspolitische Fragen trennen? Wie weit würde eine Demokratisierung reichen, wenn Massenmedien weiter in den Händen von Großkonzernen blieben? Und vor allem: Wo bleibt die Demokratisierung von Ökonomie und Arbeitsleben?
Trotzdem ist bemerkenswert, dass gesellschaftliche Gruppen heute unter dem Schlagwort Liquid Democracy mit der „Verflüssigung“ von Entscheidungsprozessen experimentieren. Die Versuche mögen naiv wirken. Trotzdem beweisen sie, dass komplizierte inhaltliche Debatten heute mit Hilfe von Software-Tools über das Netz strukturiert und teilweise automatisiert werden können. Partizipation wird dadurch nicht weniger zeitaufwendig. Aber die Grenzen zwischen aktiver Beteiligung und Delegation, zwischen Expertise und einfachem Interesse werden durchlässiger.
Das Schöne an gesellschaftlicher Praxis ist, dass man das Richtige tun kann, ohne richtig erklären zu können, warum man es tut. Mit der Peer-to-Peer-Produktion hat die (keineswegs kommunistische) Freie-Software-Bewegung der Gesellschaft Hinweise an die Hand gegeben, wie eine „freie Assoziation der Produzenten“ jenseits von Markt und staatlichem Plan aussehen könnte. Mit Liquid Feedback werden heute alternative Formen der Demokratie erprobt – auf „höchstem Stand der Produktivkräfte“. Vielleicht ist die große Marx’sche Vision – Demokratie und Gemeineigentum – heute greifbarer, als wir es ahnen.
Der Autor lehrt Politische Theorie an der Nationaluniversität Kolumbiens und ist Schriftsteller. Im Herbst erscheint sein neuer Roman „Der Eindringling“ bei Suhrkamp.
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