: Schuld und Schweigen
Die Debatte über die Rolle von rechten Parteien und Rassismus in Dänemark, den Niederlanden und der Türkei
Während das offizielle Dänemark die Fahnen auf halbmast senkt und einen Trauergottesdienst veranstaltet, streiten Blogger und Kommentatoren heftig darüber, ob die dänische Politik eine Mitschuld an Anders Behring Breiviks Bluttat in Norwegen hat. Breivik nennt Dänemark in seinem Manifest, das er kurz vor seiner Tat noch ins Netz stellte, ein rühmliches Vorbild. Das Land sei ein Beispiel dafür, wie die abendländische, christliche Kultur vor den muslimischen und marxistischen Horden zu beschützen sei.
Damit spielt er auf die dänische „Wertepolitik“ an. Nato-Generalsekretär Anders Fogh Rasmussen hatte vor zehn Jahren als neu gewählter Premierminister die „Wertepolitik“ zusammen mit der Dänischen Volkspartei eingeläutet.
Hinter dem harmlosen Begriff versteckt sich die Politik, die es Ausländern aus Nicht-EU-Ländern nahezu unmöglich macht, nach Dänemark zu kommen, und denen, die es geschafft haben, das Leben schwermacht. Rasmussen dürfte es nicht wirklich gefallen haben, dass er nun in Breiviks Manifest lobend erwähnt wird. Gesagt hat er dazu bisher nichts.
Die meisten Politiker des Landes halten sich derzeit an die dänische Redewendung: „Es ist viel los am Händewaschbecken“ – alle waschen ihre Hände in Unschuld, auch die Dänische Volkspartei. „Das ist ja wieder typisch. Wenn Muslime eine Terrortat begehen, ist es unsere Schuld. Und wenn jetzt ein schwachsinniger Terrorist aus antimuslimischen Beweggründen eine Terrortat begeht, ist es auch unsere Schuld“, sagte der außenpolitische Sprecher der Dänischen Volkspartei, Søren Espersen, dem dänischen Rundfunk.
In der linksliberalen Tageszeitung Politiken schrieb der Kommentator Lars Trier Mogensen: „Die stille Akzeptanz des bürgerlichen Mainstreams hat die Besessenheit und die Fantasien der Rechten teilweise legitimiert.“ Der Vorsitzende der Sozialistischen Volkspartei, Villy Søvndal, ist der gleichen Ansicht: „Der Massenmörder, der sich selbst als einen ‚Kulturkonservativen‘ bezeichnet, hatte eine Vorgeschichte in der sonst so erfolgreichen norwegischen Fortschrittspartei. Viele Jahre der Agitation der radikalen Rechten – auch in der dänischen Politik – gegen Muslime und gegen die Linke muss nun durch ein differenzierteres Verständnis des Totalitären ersetzt werden. Antidemokratische und antihumanistische Weltanschauungen kommen in vielen Gewändern – auch von rechts.“
Die Dänische Volkspartei gibt sogar selbst zu, inhaltliche Übereinstimmungen mit dem norwegischen Attentäter zu haben: „Anders Breivik lehnt Einwanderung und die EU ab. Wir haben zum Teil die gleichen Ideen. Dann wird er ein Terrorist, und es ist unsere Schuld. Es ist unerhört, dass wir deswegen jetzt etwas an unserer Rhetorik oder Praxis ändern sollen“, sagte Søren Espersen der Tageszeitung Jyllands-Posten.
Im November wird in Dänemark ein neues Parlament gewählt. Wie sich das Massaker in Norwegen darauf auswirken wird, lässt sich derzeit noch nicht absehen. CARSTEN HOUGAARD
Anders Breivik bewunderte Geert Wilders. Entsprechend eilig hatte es dieser, sich von dem „gewalttätigen und kranken Geist“ des Attentäters zu distanzieren. Anfang der Woche wurde Wilders sogar noch deutlicher: „Dass der Kampf gegen die Islamisierung durch einen Psychopathen auf gewalttätige Weise missbraucht wird, ist ein Schlag ins Gesicht der weltweiten Antiislambewegung.“ Knapp eine Woche nach den Attentaten von Oslo ist eine heftige Debatte über eine etwaige Mitverantwortung der niederländischen Rechtspopulisten im Gang.
Die Partij voor de Vrijheid (PVV) und ihre Galionsfigur Wilders stehen unter Zugzwang: die liberale Tageszeitung De Pers nannte Breivik den „ersten Terroristen, der sich explizit auf die Ideologie der Neuen Rechten beruft“.
Auch Bart Jan Spruyt, Vorsitzender der konservativen Edmund-Burke-Stiftung, sieht einen inhaltlichen Zusammenhang zwischen der Gedankenwelt des Attentäters und „der apokalyptischen Vision, die Wilders systematisch darstellt“. Spruyt forderte Wilders zu Wochenbeginn auf, seine ideologischen Unterschiede zu Breivik öffentlich zu machen.
Vorsichtige Worte kamen bislang von den linken Parteien. Sozialdemokraten, Linksgrüne und Sozialisten beteuerten zunächst unisono, dass Wilders keine Schuld an den Taten Breiviks trifft. Der Chef der Arbeitspartei, Job Cohen, mahnte indes, Politiker sollten sich über ihren Einfluss bewusst sein und „ihre Worte mäßigen“. Pointierter wird der grüne Abgeordnete Tofik Dibi: Wilders müsse sagen können, was er will, stehe allerdings auch in der Verantwortung, die Wut seiner Anhänger zu „kanalisieren“. Dibi fordert nach der Sommerpause eine Debatte über die Berührungspunkte zwischen der PVV, dem Attentäter und der Xenophobie.
Wenig erpicht auf eine solche Diskussion dürfte die konservative Minderheitsregierung aus Rechtsliberalen und Christdemokraten sein, die von der PVV geduldet wird. Erst vor wenigen Wochen verabschiedete sie eine „Integrationsnota“, die Migranten zur Assimilation aufruft und sich eindeutig von der multikulturellen Gesellschaft verabschiedet. In diesem Dokument manifestiert sich die Essenz der verbissenen niederländischen Diskussion um Identität und Integration: Inhalte, die einst Pim Fortuyn auf der politischen Agenda platzierte, sind längst im Mainstream angekommen.
Den Beweis dafür erbrachte unlängst der christdemokratische Vizepremier Maxime Verhagen, der in einer Rede Verständnis für jede Art von Überfremdungsangst ausdrückte. Es überrascht nicht, dass seine Partei die Attentate von Oslo nicht als Anlass sieht, über den Ton der politischen Auseinandersetzung in den Niederlanden zu debattieren. TOBIAS MÜLLER
Der Massenmord durch den norwegischen Rechtsextremisten Anders Behring Breivik hat die Besorgnis über eine wachsende Islamophobie in Europa in der türkischen Öffentlichkeit erheblich verstärkt. Der Menschenrechtsausschuss des türkischen Parlaments kündigte an, zukünftig rechtsextreme, antiislamische Bewegungen in Europa intensiver zu beobachten, und will zu diesem Zweck auch mehrere Delegationen in verschiedene europäische Länder schicken.
Der Vorsitzende des Ausschusses, der stellvertretende AKP- Vorsitzende Ayhan Sefer Üstün, machte darauf aufmerksam, dass sich Berichte über Misshandlungen von muslimischen Migranten in europäischen Gefängnissen häuften. Erst am 2. Juli sei in einem holländischen Untersuchungsgefängnis der türkische Migrant Ihsan Gürz unter zweifelhaften Umständen zu Tode gekommen.
Üstün forderte die europäischen Politiker auf, dringend ihre Migrationspolitik zu hinterfragen. Nach Üstüns Auffassung ist das Massaker von Oslo der Preis, der für die zunehmenden xenophoben und rassistischen Tendenzen in Europa gezahlt wird, weil sich die Länder damit nicht auseinandersetzen wollten. Die Zeitung Zaman wies gestern darauf hin, dass in dem letzten Jahresbericht der „EU-Agentur für Grundrechte“ in Wien, dem wichtigsten Jahresbericht über Menschenrechtsverletzungen innerhalb der EU, kein Wort zu Islamophobie und Menschenrechtsverletzungen durch Muslimhasser vorkomme. Es gehe lediglich um Asylrechtsverletzungen, Diskriminierungen von Roma und Datenrechtsverletzungen. Zaman hat die Vorsitzende der Assoziation türkischer Vereine in Norwegen, Hatice Elmacioglu, interviewt. Frau Elmacioglu berichtete von der wachsenden Angst der Muslime in ihrem Land, selbst zum Ziel von Anschlägen zu werden.
Die Kritik am europäischen Rassismus ist in der Oslo-Debatte allerdings bislang auf die zweite Reihe der türkischen Politiker begrenzt. Staatspräsident Abdullah Gül kondolierte wie alle anderen europäischen Regierungschefs in Oslo. Und Ministerpräsident Tayyip Erdogan meldete sich bei der Familie der getöteten Gizlem Dogan, eines Einwandererkindes, das sich in der sozialdemokratischen Jugendorganisation engagiert hatte und zu den auf der Insel Utøya ermordeten Jugendlichen gehört. Etliche Kommentatoren sind allerdings weniger zurückhaltend als die Regierung.
Bülent Kenes, Sprecher der regierenden AKP, schreibt in Zaman, dass Breivik ein „Weckruf für Europa“ sei. Den Blick vor Rassismus und Islamophobie zu verschließen, wie Europa es tut, „ist gefährlicher, als sich mit solchen Tendenzen, die es überall gibt, offen auseinanderzusetzen“. „Der Virus der Islamophobie und des Rassismus“ ist nach Meinung von Kenes durch diese Haltung längst von einer Minderheit zu einer Mehrheit übergesprungen, „ja hat selbst starke Institutionen wie die Polizei infiziert“.
Viele Kommentatoren beklagen auch die Tendenz, Breivik zu einem „irren Einzeltäter“ zu machen, für den die Gesellschaft keinerlei Verantwortung habe. „Nachdem feststand, dass es sich bei dem Attentäter nicht um einen islamischen Terroristen, sondern um einen weißen nordischen Täter handelte, veränderte sich die Berichterstattung dramatisch“, schreibt Dogu Ergil, einer der bekannten liberalen Kommentatoren. „Plötzlich war es keine Attacke mehr auf die zivilisierte norwegische Gesellschaft durch unzivilisierte Islamisten, sondern eine nationale Tragödie, verursacht durch einen Verrückten.“
„Europa“, schreibt Kenes, „war weltweit das Rollenmodell für eine demokratische, tolerante und freiheitliche Gesellschaft. Die Türkei hat sich lange an europäischen Standards orientiert. Europa hat eine große Verantwortung für diese Werte. Es sollte diese Verantwortung endlich ernst nehmen“. JÜRGEN GOTTSCHLICH