vonWolfgang Koch 28.02.2008

Wolfgang Kochs Wienblog

Vom letzten Glanz der Märchenstadt oder wie es sich an der blauen Donau gerade lebt.

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Die Kleine Wiener Stadtgeschichte hält jetzt bei der Frohfarbe Rot. Sie wissen schon: die politische Hoffnungsfarbe der Linken, der sozialdemokratischen wie der Kommunisten. Wiener Fremdenführer werden in ihrer Ausbildung angehalten, möglichst nicht den Begriff »Rotes Wien« zu verwenden, weil das bei ausländischen Gästen häufig zu kapitalen Missverständnissen führt.

Was man in Wien unter Rot verstehen, hört sich in fremden Ohren angeblich nach Moskau, KGP und Gulag an. Dabei war der Mikrosozialismus der Zwischenkriegsjahre doch ganz etwas anderes. »Das Modelldenken des Roten Wien entwickelt sich aus der spezifischen Situation der Arbeiterbewegung in der Wirtschaftskrise zwischen den imperialistischen Kriegen«, würden marxistische Historiker sagen.

Ich sage: Das Modelldenken des Roten Wien entwickelt sich aus dem philanthropischem Bemühen von Arbeiterpolitikern der Jahrhundertwende, das Grosse im Kleinen zu sehen. Die Männer an der Spitze der Sozialdemokratie sind Bürgerliche, nach heutigen Begriffen Sozialliberale, und Makrokosmiker. Sie tragen Anzüge, spielen Klavier und schicken ihre Söhne zum Studium ins Ausland. Die Austromarxisten der ersten Stunde wollen eine Stadt bauen, die der ganzen Welt als Vorbild dient.

Dieser pädagogische Ansatz zur Besserung des Menschengeschlechts wird leichter verständlich, wenn man sich vor Augen hält, dass die Arbeiter- von Beginn an immer auch eine Bildungsbewegung gewesen ist. Lesen und schreiben gehört zur Grundausstattung derer, die die ökonomischen Fesseln ihrer Ausbeutung sprengen wollen.

Man denke nur: Bibliotheken in Gemeindebauten! Wie ist das fünf Jahre nach dem Weltkriegsinferno möglich geworden? Mitten in einem von Dekadenz umspülten Jahrzehnt, in dem angeblich der Champagner kübelweise sprudelt, Mitte der Zwanziger unterhält der Wissenschaftshistoriker und Otto-Bauer-Freund Edgar Zisel in jedem Wiener Bezirk eine philosophische und eine physikalische Diskussiongruppe.

Da treffen sich Arbeiter einmal die Woche mit Notizzetteln am Schoss. Während die Döblinger Salonlöwen, Unternehmer und Geschäftsleute, »Albert Einstein« für den Namen eines dahergelaufenen Ostjuden halten, diskutieren die Werktätigen ihrer Fabriken die Bedeutung der Relativitätstheorie. Wenn das kein Fortschritt ist!

Der Freud-Schüler und Individualpsychologe Alfred Adler, der Historiker Ludo Moritz Hartmann, solche Geistesgrössen lehren an den Volkshochschulen. Dann die Reformen des »Schulbolschewisten« Otto Glöckel (1874-1935) – ein ultrarotes Tuch für Traditionalisten.

Das Rote Wien und das Rote Moskau mögen einige Gemeinsamkeiten haben; doch beides sind widerstreitende Konzepte einer sozialistischen Moderne. In den Rationalismus der Modellstadt Wien gehen Vorstellungen des Religions- und Metaphysikkritikers Josef Popper-Lynkeus ein (sein Denkmal steht neben dem des Erkenntistheoretikers Ernst Mach im Rathauspark). Der Modellsozialismus Wiens wird weiters vom Denken Otto Neuraths, eines Eponenten des Wiener Kreises, befeuert.

Sie alle – Zilsel, Adler, Hartmann, Glöckel, Popper-Lynkeus, Neurath – sehen im Staatswesen eine Art übergrosse Fabrik, deren Aufgabe es ist, menschliches Glück zu erzeugen. Von diesem gesellschaftstechnologischen Standpunkt aus erscheinen rationale Planungsmassnahmen als Mittel zur Neugestaltung der Zukunft.

Die zahlreichen Entwürfe für Innovationen nehmen keine Rücksicht auf Überlieferungen. Man denkt sich Ordnungen aus, praktische, funktionale, die vor allem die Lebensgrundlage jedes Einzelnen sichern sollen.

Der Neue Mensch pocht ungeduldig ans Stadttor.

© Wolfgang Koch 2008
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