vonWolfgang Koch 27.12.2007

Wolfgang Kochs Wienblog

Vom letzten Glanz der Märchenstadt oder wie es sich an der blauen Donau gerade lebt.

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Vor dem Krieg ist nach dem Krieg. Vier Jahre nach der Einführung des allgemeinen Männerwahlrechtes in der Monarchie demonstrieren Tausende vor dem Rathaus und in Ottakring gegen die Teuerungswelle.

Bei den 1911er-Wahlen zum Reichstag verlieren die Christlichsozialen 17 ihrer bisher zwanzig Wiener Mandate. Damit vollzieht sich eine für die Stadt entscheidende Wende: Die Sozialdemokratie erleidet nämlich zugleich in den Sudentenländern eine empfindliche Niederlage; so kommen jetzt zahlreiche ihre neuen Abgeordneten aus Wien.

Das Schwergewicht der Sozialdemokratie wird fortan auf der Stadt beruhen, während die Christlichsozialen, aus Wien hinausgedrängt, zur einer Partei der Länder mutiert.

Vor dem Krieg ist nach dem Krieg. Ich will hier keine extragrosssen Worte über die Weltkriegskatastrophe verlieren.

Wir halten fest: Das Weisse Wien, das mit den Liberalen begonnen und sich mit den Christlichsozialen fortgesetzt hat, erblasst, es wird fahl und immer bleicher. Der Rotlichtbezirk am Spittelberg, mit seinen Nymphen-Liesls und Kellnerinnen in weissen Strümpfen, wird »wegen Seuchengefahr« geschlossen.

In Aspern plant Architekt Hugo Mayer eine Siedlung für heimkehrende Soldaten, die aus dem Kriegerheimstättenfonds finanziert werden soll. (Später wird Mayer im errötenden Wien im selben Stil Arbeiterwohnheime und Gartensiedlungen bauen).

Und der alte Prohaska? Der hockt an seinem Schreibtisch in Schloss Schönbrunn oder in der Hofburg und führt unverdrossen einen 52-Millionen-Staat im Stil des obersten Hofkanzleibeamten. Wie Konrad Bayer in Der Kopf des Vitus Bering verblüffend sagt:

der und kaiser sein versank poet in wusste tiefe nichts trauer besseres, als das alphabet zur nationalhymne zu ordnen.

»Ich verstehe das nicht!«, sagen Sie? – Naja, am Krieg gibt’s ja auch nichts zu verstehen. Der Krieg ist die Negation alles Bestehenden, die Umwertung aller Werte. Soldaten sterben, Huren werden vertrieben, Architekten planen für Invaliden, der Kaiser aber trauert und sein Dichter stimmt ein neues Lied an.

So ist es 1914 überall.

© Wolfgang Koch 2007
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