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anonym geht’s ungestüm

von WIGLAF DROSTE

Die Berliner Programmzeitschrift tip unterhält eine Klatschrubrik namens „Jäger & Sammler“; in der jüngsten Ausgabe wird dort etwas verhandelt, das mit Prominentenschischi eigentlich nichts zu tun hat. Das namentlich nicht gezeichnete Stück sei hier ungekürzt zitiert: „Eine der schlimmen Folgen des 11. September ist Roger Willemsen. Seit dem Krieg in Afghanistan jammert dieses islamische Klageweib auf jeder Seite, die ihm verantwortungslose Journalisten hinhalten. Ob in der taz oder in der blutleeren Woche: Der Pontifex Pazifus ist nicht zu bremsen. Da greint und grummelt er, schwätzt und nölt, ohne auch nur einen Funken Verstand vorzutäuschen. Der 11. September habe ‚den Terror des Amüsements unterbrochen’, fügte der Talkmaster ausgerechnet in einer Talkshow an. Richtig, Roger, halt einfach die Fresse!“

Was weht uns an aus diesem anonymen Brief? „Schlimm“ ist das Lieblingsadjektiv von Leuten, die an der Last des Verstandes nicht zu tragen haben. Verstand wiederum ist für den versteckten Schreiber etwas, das „vorgetäuscht“ werden muss, und im letzten Satz spricht dann die Kameradschaft Tiergarten, laut und ungewaschen: „Halt einfach die Fresse!“ Nur eins hat der Hops-SA-Mann vergessen: Zusammenschmieren kann ein solcher Feigling, was immer ihn juckt. Aber andere anduzen, das darf er nicht.

Das ist die Qual aller Konformisten: An ihrem eigenen Konformismus haben sie nicht genug. Es reicht ihnen nicht, sich mit 98 Prozent ihrer Kollegen in den Armen zu liegen. Zwanghaft müssen sie Abweichler auf Linie bringen – und das, obwohl sie das Thema längst nicht mehr interessiert, denn längst wurde und wird anderes durchs Mediendorf getrieben: Hannawald, Gysi, Stoiber, egal. Ussama Bin Ladens Halbwertszeit hält allerdings etwas länger: Er ist schließlich so nützlich. Man kann so gut seine Gratisgesinnung absondern und durch gemeinsames Ausspucken Wärmestubengefühle erzeugen: Ja, es ist eine miese Welt da draußen, aber wenigstens stehen wir zusammen, wir gegen den. Die Angst vorm Alleinesein hat noch fast jedem das Gehirn vernebelt. Auch militärisch ist Bin Laden ein wichtiger Funktionsträger für die USA und die Nato: Als es notwendig erschien, den Krieg in Afghanistan für gewonnen und damit fälschlicherweise für beendet zu erklären, wurde Bin Laden kurzfristig tot gemeldet; praktischerweise erschien er, um die leicht erschlaffte Anti-Terror-Hysterie wieder anzukurbeln, kurz darauf wieder in Pakistan. Wo wird er als nächstes auftauchen? Im Irak? Im Sudan? Vermutlich dort, wo er am dringendsten gebraucht wird.

Nicht jedoch im deutschen Karneval – gegen das Tragen von Bin-Laden-Masken haben sich führende Frohsinnsfunktionäre vehement ausgesprochen: das sei „geschmacklos“. Wer weiß ganz genau, was Geschmack hat und was nicht? Unsere Helau- und Alaafbrüder? Anonyme Briefeschreiber? Das organisierte Herbeipressen und Verordnen von angeblicher Angemessenheit führt eben nicht zu individueller Pietät, sondern geradewegs zu verdruckstem, denunziationswütigem Pietismus.

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