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das große schriftartensterben

von KATHRIN PASSIG

Yves Noko, Typograf bei der finnischen Werbeagentur ® & ®, ahnte die heraufziehende Katastrophe schon früh. „Ich wollte nur schnell einen Blindtext setzen“, erinnert er sich an den schwarzen Tag im Juli 2001, „aber außer ein paar Wingdings und unansehnlichen Minuskeln war nichts mehr übrig.“

Jahrzehntelang hatte man sorglos die scheinbar unerschöpflichen Mengentextvorräte des Traditionsunternehmens aufgezehrt, und nun war kein Nachschub in Sicht. Der verstärkte Einsatz von Textbausteinen erwies sich als Tropfen auf den heißen Stein; letztlich sah ® & ® sich gezwungen, in Polen die Buchstaben aus alten Kampagnen heraustrennen und reinigen zu lassen. „So können wir sie bis zu zehn Mal wiederverwenden“, sagt Noko sorgenvoll, „aber eine Lösung ist das selbstverständlich nicht.“ Das größte Schriftartensterben seit vierhundert Jahren ist im Gange, Folge von Raubbau an den weltweiten Vorkommen, dem unaufhaltsamen Vordringen aggressiver Neuentwicklungen wie der allgegenwärtigen Comic Sans und vor allem der lawinenartig anwachsenden Gesamtmenge der Veröffentlichungen. Zeitlose Typen werden aus ihren angestammten Lebensräumen verdrängt, der Frutiger-Bestand ist selbst in der Schweiz gefährdet, und der immer schon seltene Zwiebelfisch ist bereits vor Jahren, kaum bemerkt von der Öffentlichkeit, ausgestorben.

Der Verbrauch an den überstrapazierten Helvetica- und Times-Roman-Schriften liegt bei etwa 450 Milliarden Zeichen pro Jahr, was bedeutet: In knapp zehn Jahren sind die Bestände erschöpft. Vielfach müssen einzelne Zeichen bereits heute durch billig in Drittweltländern gefertigte Platzhalter ersetzt werden. Die in den letzten Jahren halbherzig angelegten Schonungen können kaum Abhilfe schaffen – was heranwächst, wird 2010 nicht viel größer als drei bis vier Punkt sein und sich damit höchstens für den Druck von fancy Technoheftchen eignen.

Die westlichen Regierungen haben solche Szenarien bislang nur zu gern verdrängt – dabei ist ein Umsteuern in der Schriftsatzpolitik längst überfällig. Immerhin: Über vier Milliarden Euro sollen ab 2002 Reservate für Copperplate Gothic, RSVP und andere Schriften erhalten, die in den Achtzigerjahren noch verbreitet waren und heute bedroht sind. „Staatlich subventionierte Boutiquenschilder, Hochzeitskarten und Imbissbudenbeschriftungen werden darüber entscheiden, ob unsere Kinder die Vielfalt der Schriftfamilien noch in freier Wildbahn erleben oder nur noch im ,Letraset‘-Katalog betrachten können“, erläutert der Ostberliner Experte Ernst H. Elpenor. Berlin ist bereits Schriftarten-Schutzgebiet: „Hier können Sie Typen in ihrem natürlichen Habitat sehen, die in anderen Bundesländern seit Dekaden ausgestorben sind.“

Das Fazit der Wissenschaftler klingt düster: „Selbst wenn es gelänge, die wichtigsten Brotschriften zu verteidigen, so erscheint es doch hoffnungslos, die gesamte Schriftartenvielfalt zu schützen.“ Das Worst-Case-Szenario mutet apokalyptisch an: „Wir werden alle wieder mehr Radio hören müssen.“

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