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Archiv-Artikel

vom sinn des lesens

Ein letztes Mal fächern wir Argumente auf, die für den Erhalt eines dichten Netzes an Stadtteil-Büchereien sprechen. Drei von ihnen sollen die Hamburger Öffentlichen Bücherhallen opfern. Zur Leseförderung äußert sich Georg Ruppelt, Vorstandsvorsitzender der Stiftung Lesen und Leiter der niedersächsischen Landesbibliothek.

„Zur Situation des Lesens in Deutschland ist zunächst zu sagen, dass die Lesefreudigkeit seit Jahren nachlässt. Das kann die Stiftung Lesen mit eindrucksvollen Zahlen belegen: So verfügen 25 Prozent der Kinder über sprachliche Entwicklungsdefizite, 42 Prozent der Jugendlichen lesen nicht zum Vernügen, und zehn Prozent können gar nicht lesen und schreiben. Diese Zahlen halte ich für alarmierend und nicht gerade für einen Hinweis darauf, dass Bibliotheken überflüssig wären. Denn Lesen bedeutet nicht nur eine höhere Lebensqualität, sondern ist auch Voraussetzung, um sich in dieser hoch technisierten Welt zurechtzufinden. Denn es geht ja nicht nur um – durchaus wichtige – Romanlektüre, sondern auch um Medienkompetenz.

Biblioheken erfüllen eine höchst wichtige Funktion in der Leseförderung außerhalb der Schule; die Kooperation der Hamburger Öffentlichen Bücherhallen mit den Schulen ist da vorbildlich. Denn genau dieser Bereich ist es, den die Stiftung Lesen vorrangig propagiert: Neben der schulischen Leseförderung betonen wir stets die unbedingte Notwendigkeit frühkindlicher Leseförderung in Kindergärten und Vorschulen. Dabei ist die Fähigkeit des verstehenden Lesens – und vor allem der Spaß am Lesen – eine Struktur, die nicht etwa genetisch angelegt wäre: Nein, dies muss trainiert werden, und dafür gibt es bei der Spezies Mensch ein klar definiertes Zeitfenster: Bis zum 14. Lebensjahr muss der Spaß am Lesen gelernt sein. Und Jugendliche durch Sparmaßnahmen dieser Chance zu berauben, halte ich für einen schweren Fehler.

Zum Beweis wird uns demnächst die nächste PISA-Studie vorgehalten, die zeigt, dass wir uns keineswegs ausruhen können auf unseren welken Lorbeeren namens „Land der Dichter und Denker“. In Dänemark etwa investiert der Staat pro Bürger und Jahr neun Euro ins Bibliothekswesen, während es in Deutschland ein Euro ist; in allen anderen EU-Staaten genießt die Förderung des Bibliothekswesens hohe Priorität.

In Deutschland fehlt eine zentrale Bibliotheks-Agentur, die verbindliche Standards festlegt und Anreize gibt. Dies fordern die deutschen Bibliotheksverbände und die Bertelsmann Stiftung seit langem, aber bisher scheint das Bewusstsein dafür zu fehlen. Das ist sehr bedauerlich, denn Bibliotheken erfüllen einen expliziten Bildungsauftrag, dessen Resultate letztlich der ganzen Gesellschaft zugute kommen.“

Protokoll: Petra Schellen