unterm strich:
Wie leicht man durcheinander kommt: „Engelbert Humperdincks ‚Hänsel und Gretel‘ als Pädophilenstück in Erfurt“, vermeldet die dpa, und aufgrund komplizierter kultureller Kurzschlüsse glaubt man für einen Augenblick, der gleichnamige Brusthaar-Darsteller und Bademantelballaden-Sänger der späten Sechziger und frühen Siebziger hätte tatsächlich eine Oper geschrieben. Und handelt Engelbert Humperdincks Werk nicht in einem fort von sleazy Verführung und somit unterschwellig von märchenhafter Gewalt? Aber nein – Engelbert Humperdinck der Ältere ist gemeint und seine Oper „Hänsel und Gretel“ von 1893. Die soll am Samstag kommender Woche am Erfurter Opernhaus aufgeführt werden: als „Pädophilenstück“. Das hat zumindest Giancarlo del Monaco angekündigt, der italienische Opernregisseur, der gegenüber der dpa gleich noch ankündigte, dass er es gerne riskiere, „ein schweinischer Regisseur“ genannt zu werden. Es steht also ein Skandal ins Haus: Elternverbände und Moralapostel, aufgepasst! Für den Fall, dass es noch niemand bemerkt haben sollte, hier passieren Dinge, die man „schweinisch“ nennen könnte. Die Oper nur für Erwachsene spiele zur gleichen Musik und Textvorlage, werde aber in den Bildern von Bühnenbildner Peter Sykora einen harten Kontrast zur historischen Vorlage bieten, kündigte del Monaco an. „Der Wald im Märchen weicht einem Bordellviertel mit Glasfenstern, Hochhäusern, Mülltonnen und bettelnden Kindern.“ Die Mutter ist eine schlagende Hure, der Vater – wie schon im Original – ein Säufer. Das Sand- und Traummännchen wird ein Kokain schnupfender Handlanger, der die Kinder mit einer Videokamera verfolgt, um sie der Hexe „für deren Lust zu servieren“. „Die Hexe ist der nette Mann von nebenan, der Perverse und auch der Kirchenmann“, sagte der Gastregisseur. „Ich klage aber nicht die Kirche an, sondern den Verdrängungsprozess der Kirche.“ Wahnsinn!, ist man da geneigt zu rufen, hier wird wirklich kein heißes Eisen ausgelassen. Mehr als ein Jahr habe sich del Monaco mit dem Märchen befasst, das die Brüder Grimm nach einem wahren Ereignis aufgeschrieben hätten: Eine angebliche Hexe habe zwei Kinder zu sich gelockt, vergewaltigt und gegessen. „Heute ist Kinderprostitution und Kinderpornografie ein lukratives Geschäft“, sagte der Vater dreier Töchter, der zum vierten Mal Vater wird. Seiner Meinung nach haben die alten Märchen keinen Sinn mehr. Und als würde all das noch nicht reichen, fügte del Monaco noch hinzu: „Ich würde mich sehr freuen über ein Märchen von Elfriede Jelinek, trotz ihrer sperrigen Art zu schreiben.“
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