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...und fliegt auf die Schnauze

■ Am Sonntag, dem 16. April vor 100 Jahren, wurde Charles Spencer Chaplin geboren / Der französische Schauspieler Barrault schrieb 1948 über den philosophischen Mimen

Jean-Louis Barrault

Charlot macht keine Geste, die nicht auch Sinnbild wäre. Ein beliebiges Beispiel aus ich weiß nicht mehr welchem Film: Charlot ist bekehrt worden; geläutert faltet er die Hände, schlägt die Augen gen Himmel; eine Seele! ... er geht ein Stück... und fliegt auf dei Schnauze! Zurück zu den Gesetzen der Schwerkraft, Konflikt zwischen Materie und Geist.

Ein Metaphysiker würde sich in einer tiefsinnigen Abhandlung darüber auslassen; Charlot packt es an und legt es dar, wie es sich einfacher und naheliegender kaum vorstellen läßt.

Das Sinnbild platzt aus der Geste hervor und erzeugt das Lachen. Ohne diesen symbolischen Gehalt wäre Charlot kaum mehr als ein Hanswurst, doch so ist er ein Genie.

Aber schauen wir uns einmal an, wie sehr seine Bilderwelt im alltäglichen Leben verankert liegt: Charlot wartet im dichtesten Gedrängel auf die Straßenbahn; alle quetschen sich hinein, nur er bleibt auf dem Trottoir zurück. Zweite Straßenbahn: Ein vorbeifahrendes Auto hindert ihn wieder am Einsteigen. Dritte Straßenbahn: Er nimmt all seine Eenrgie zusammen, schubst und tritt und klettert über die Köpfe der anderen Leute hinweg als erster in den Wagen; die Menge schiebt hinterher. Die Kamera springt zurück, und man sieht Charlot, wie er von den nachrückenden Fahrgästen bis ans hintere Ende der Straßenbahn durchgepreßt wird, bis er schließlich wieder auf dem Trottoir landet. Moral: Die Ersten werden die Letzten sein. Man könnte sagen: eine Fabel von La Fontaine. Doch wie einfach! Nie verläßt seine Darstellung auch nur um Haaresbreite den Bereich des leicht Faßbaren, doch das nimmt nichts von ihrem tiefen Gehalt.

Doch es ist weniger der Schöpfer oder der moralische Poet, der mich interessiert, sondern der Schauspieler: Mit Charlot hat Chaplin etwas gefunden, wonach wir so oft vergebens suchen: Er hat eine „Figur“ gefunden.

Diese schwierige Suche ist das Hauptproblem des Schauspielers. Ein Debütant sucht nach seiner Persönlichkeit. Seine dauernde Sorge ist, ob er eine Rolle spürt, ob sie seiner Persönlichkeit nicht entgegengesetzt ist. Doch sobald er damit im Reinen ist, sobald er sich eine bestimmte Richtung gibt, sucht er sich in seinem „Rollenfach“ zu bewähren; er wünscht sich eine „Figur“ zur Darstellung. So wie Moliere mit dem 'Menschenfeind‘ oder dem 'Geizigen‘ „Figuren“ schuf, die in einer Vielzahl von Situationen vom Leben erweckt werden könnten, so ist auch Charlot eine „Figur“, die in unterschiedlichen Rollen entstehen kann. Sie ist sowohl archetypisch als auch „aus dem Leben gegriffen„; also das, wovon wir Schauspieler träumen.

Die Wandelbarkeit dieser „Figur“ ist unerschöpflich. Das liegt auch daran, daß Charlots Gestik auf einer außergewöhnlichen Technik beruht. Sie beinhaltet die Bewegungslosigkeit ebenso wie den Tanz. In The Great Dictator sieht Charlot zu, wie sein Haus abbrennt; man sieht ihn von hinten; er steht völlig erstarrt; und dennoch liegt in diesem Rücken die tragische Eloquenz eines langen Monologs. Chaplin hat hier den Gipfel des mimischen Ausdrucks erklommen: die Bewegungslosigkeit.

Mitunter bedient er sich aber auch gänzlich überbordender Gebärden, und sein Spiel, das einen gewissen Realismus zum Ausgangspunkt hatte, mündet in den reinen Tanz. Erinnern Sie sich nur an jene andere Szene aus The Great Dictator, in der Charlot eine Pfanne um die Ohren gehauen bekommt, woraufhin er auf der Bordsteinkante einen Tanz vollführt, dessen Nachahmung jedem großen Tänzer zur Ehre gereichen würde.

Zum Abschluß, ohne Sie mit allzuvielen Einzelheiten aus der „Küche“ des Mimen belästigen zu wollen, möchte ich Sie darauf hinweisen, daß Charlot all seine Gesten und Bewegungen im Brustkorb generiert. Von diesem Zentrum aus strömen sie den anderen Partien seines Körpers zu und erfassen sie gleichzeitig. Wenn Charlot betrunken ist, dann sind ihm nicht nur die Beine schwer, die vor ihm tanzen.

Aber niemals trägt er zu dick auf; er hat einen ausgeprägten Sinn für Verknappung. Wo jeder andere zwei Minuten lang gestikulieren würde, drückt sich Charlot in 15 Sekunden aus.

Für uns Schauspieler ist er ein Musterbeispiel für die Sparsamkeit der Mittel. Und: Er hält uns stets vor Augen, welches wir in der dramatischen Kunst, die doch Deutung und Neuschöpfung des Lebens ist, als unser wichtigstes Werkzeug ansehen sollten: den Menschen.

Seine Größe liegt für jeden auf der Hand, denn auch in seiner unscheinbarsten Geste offenbart sich ein Herz und der Geist der Brüderlichkeit.

Aus: Cine-Club; No.4, 1948. Der Text ist Teil eines Vortrags, den Jean-Louis Barrault bei einer Veranstaltung der Organisation „Travail et Culture“ hielt. Deutsch von Ralph Eue.

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