taz-Serie Was macht eigentlich …? (Teil 10): Eine Obdachlosen-Zeitung für viele
Der „Karuna Kompass“ verkauft sich besser als der Vorgänger „Straßenfeger“. Ein Problem aber: Was tun gegen die aggressive Bettelei am Hauptbahnhof?
Der Wind pfeift kalt über den Europaplatz. Menschen mit und ohne Gepäck huschen vorbei, verschwinden im gläsernen Schlund des Hauptbahnhofs oder werden von ihm ausgespuckt. Katja Nowak, eine magere junge Frau mit Nasenpiercing, die eigentlich anders heißt, mustert die Vorbeieilenden und hüpft dabei von einem Bein aufs andere, so dass ihr Zeitungspacken über dem linken Arm wippt. Manchmal entschließt sie sich, geht auf jemanden zu, lächelt, hebt an: „Hätten Sie vielleicht Interesse …?“ Die meisten gehen weiter, bevor sie den Satz beendet hat.
Nowak ist immer hier. Acht Stunden am Tag, sieben Tage die Woche verkaufen sie und ihr Mann die Straßenzeitung Karuna Kompass, sie am linken Eingang zum Bahnhof, er an der rechten Tür. An schlechten Tagen, erzählt die Polin, würden sie nur neun oder zehn Stück los: „Das ist hart!“ Aber insgesamt reiche es zum Überleben – obwohl sie weder Hartz IV noch Sozialhilfe bekämen. Und es sei sogar ein bisschen besser geworden, seit sie die neue Zeitung Karuna Kompass haben, sagt sie. „Früher hatten wir ja den Straßenfeger, aber den wollte am Ende kaum noch einer kaufen.“
Im vergangenen Sommer hatte mob e. V. das Aus für den traditionsreichen Straßenfeger verkündet. Der Verein konnte die Zeitung finanziell nicht mehr stemmen, die Rücklagen seien aufgebraucht, hieß es. Die Zeitung war 1994, zunächst unter dem Namen mob-Magazin, als Selbsthilfe-Projekt für Wohnungslose gegründet worden. 200 bis 250 Verkäufer hatten zuletzt die Zeitung für 60 Cent ge- und für 1,50 Euro weiterverkauft.
Doch die Auflage war immer weiter gesunken auf nur noch 12.000, erzählt Helmut Cladders. Der Rentner sitzt im „Karuna Pavillon“ am Boxhagener Platz in Friedrichshain, einem kleinen Café, in dem sich Verkäufer den Karuna Kompass abholen können. Cladders kümmert sich wie schon beim Vorgänger-Blatt um den Vertrieb. Mehrmals die Woche kommt er her, sieht zu, dass genug Ausgaben da sind, ist aber auch Ansprechpartner für die Verkäufer. Er schlichtet zum Beispiel, wenn es Streit gibt um Standorte. Seine Theorie zum Niedergang des Straßenfegers: „Erstens: Den Leuten sitzt das Geld nicht mehr so locker. Zweitens: Es gibt zu viele Leute, die Zeitungen verkaufen.“
Luftiges Layout
Nur zehn Tage nach dem Bekanntwerden des Aus im Juni hatte die Sozialgenossenschaft Karuna angekündigt, in die Bresche zu springen. Karuna kümmert sich mit zahlreichen Projekten in der Stadt um obdachlose Jugendliche, etwa in der Erstanlaufstelle Drugstop oder der Jugendinitiative Momo. Im Karuna Pavillon zum Beispiel können Jugendliche Sozialstunden abarbeiten und einen geregelten Tagesablauf üben. In einem der Projekte war gerade eine Zeitung namens Karuna Kompass entstanden, die noch zahlreich vorhandenen Exemplare stellte Karuna-Geschäftsführer Jörg Richert den Straßenfeger-Verkäufern zur Verfügung.
Die meisten Geschichten enden nicht, bloß weil wir einen Artikel für die taz berlin darüber geschrieben haben. Deshalb fragen und haken wir bei ProtagonistInnen noch einmal nach: In unserer Serie „Was macht eigentlich ...?“ erzählen wir einige Geschichten weiter. Heute Teil zehn. Alle bisherigen neun Serientexte sind online auf taz.de/berlin nachzulesen. (taz)
Seit August letzten Jahres erscheint Karuna Kompass nun monatlich mit einer Auflage von 30.000. Richert ist zufrieden: „Die Zeitung verkauft sich sehr gut.“ Er hält bis zu 80.000 Exemplare in der Stadt für verkaufbar, der Straßenfeger habe in seinen Hochzeiten eine 60.000er-Auflage gehabt. Eine wesentliche Neuerung: Die VerkäuferInnen bekommen die Zeitung von Karuna umsonst, der Preis von 1,50 Euro fließt zu 100 Prozent in ihre eigene Tasche.
Die Druckkosten von 2.000 bis 3.000 Euro für den Kompass hat bislang die Sozialgenossenschaft übernommen. Aber Richert hofft, sie schon bald mit Werbeeinnahmen decken zu können. Die Redaktion – laut Richert machen auch Karuna-Jugendliche und Obdachlose mit – arbeitet ehrenamtlich.
Optisch wirkt die neue Zeitung moderner als ihre Vorgängerin, mit einem luftigen Layout und großen Buchstaben. „Zeitung aus einer solidarischen Zukunft“ ist sie überschrieben und berichtet etwa in der neuesten fünften Ausgabe über den gescheiterten Google-Campus in Kreuzberg, in den – mit dem Geld des Internetkonzerns – auch Karuna einziehen wird. Im Heft davor ging es vor allem um den von Karuna organisierten Bundeskongress der Straßenkinder. Kurz: Wie der Name der Zeitung vermuten lässt, geht es viel um Karuna – allerdings nicht nur. Auch Ideen von anderen für Wohnungslose, etwa die Tiny-House-Initiative aus Seattle, werden vorgestellt.
Mit oder ohne Verkäufer-Ausweis
Den VerkäuferInnen, mit denen die taz gesprochen hat, gefällt Karuna Kompass gut. Natürlich sei es super, dass sie den gesamten Erlös behalten können. „Aber auch die Leute finden die neue Zeitung besser. Sie sieht gut aus, vielleicht ein bisschen sehr schickimicki“, sagt Petra Elten, die mehr als zehn Jahre am Hauptbahnhof stand, inzwischen aber nur noch selten kommt. „Man kann sie auf jeden Fall besser verkaufen als Motz oder Straßenfeger, auch weil die Leute erst mal neugierig sind.“
Was der Endfünfzigerin nicht gefällt an der neuen Zeitung, ist die Vertriebsstrategie: Anders als den Straßenfeger kann den Karuna Kompass jeder am „Boxi“ oder im Karuna-Haus in Reinickendorf abholen – man muss sich nicht mehr als Verkäufer registrieren lassen. „Dann machen das auch Leute, die dem Ruf der Zeitung schaden“, glaubt Elten. Dagegen habe man mit dem offiziellen Straßenfeger-Verkäufer-Ausweis eine gewisse Glaubwürdigkeit und Seriosität gegenüber den Kunden beweisen können.
Richert kennt diese Argumente. „Manche VerkäuferInnen wollten unbedingt einen Ausweis, um zu zeigen, dass sie legitimiert sind.“ Seit Kurzem gibt es daher auf Wunsch doch wieder Verkäufer-Ausweise, wenn auch ohne Lichtbild. Der Geschäftsführer von Karuna findet das eigentlich nicht nötig. „Wer sich Zeitungen holt und sie verkauft, egal wer das ist, wird es nötig haben“, sagt er.
Tatsächlich hatte der Straßenfeger trotz Registrierungs- und Ausweispflicht ein Problem, das durchaus zum Niedergang der Zeitung beigetragen haben könnte, wie Elten und Nowak meinen: die zunehmende Zahl von VerkäuferInnen, die nicht wirklich Zeitungen verkaufen, sondern vor allem damit betteln.
„Straßenfeger kaputtgemacht“
Das seien „Rumänen“, sagt Elten, sie kenne das Phänomen vom Hauptbahnhof. Dort würden seit drei, vier Jahren die alteingesessenen Verkäufer von Bettlern aus diesem Land verdrängt, sagt Elten. „Ich habe nichts gegen Rumänen“, betont sie. „Aber am Hauptbahnhof agieren zwei richtige Banden, die von dort kommen.“ Die Bettler hätten meist nur ein – ziemlich zerfleddertes – Zeitungsexemplar und würden Bahnreisende teils aggressiv anbetteln, manche nur zur Ablenkung für einen geplanten Taschendiebstahl. „Damit haben sie den Straßenfeger kaputtgemacht“, ist sich Elten sicher.
Und nicht nur das: Sie und andere Zeitungsverkäufer würden von Bandenmitgliedern immer wieder geschlagen, beschimpft, geschubst – viele KollegInnen seien dadurch schon vertrieben worden. Auch Elten hat kürzlich entnervt das Handtuch geworfen und ist zum Bahnhof Spandau weitergezogen. „Da verkaufe ich natürlich viel schlechter. Am Hauptbahnhof hatte ich viele Stammkunden“, klagt sie.
Vertriebsmann Cladders bestätigt Eltens Geschichte im Wesentlichen. Ohnehin habe es in den letzten Jahren zu viele Verkäufer am Hauptbahnhof gegeben, zeitweise bis zu zehn, sagt er. Aber als dazu noch mehr Verkäufer aus anderen EU-Ländern gekommen seien, „hat sich die Situation immer mehr zugespitzt“. Natürlich gebe es viele Nicht-Deutsche, die wie andere „ganz normal“ ihre Zeitungen verkaufen. Es habe aber zu Straßenfeger-Zeiten tatsächlich Banden gegeben, über deren Verhalten sich vermehrt Kunden beschwert hätten. „Einer hatte den Ausweis, hat Zeitungen geholt und an seine Leute verteilt, die damit gebettelt haben.“ Er selbst sei einmal von einem „Rumänen“, dem er deswegen den Ausweis weggenommen habe, fast verprügelt worden.
Petra Elten, Verkäuferin
Auch André Hoek hat am Hauptbahnhof Erfahrungen wie Elten gemacht. Hoek war bis vor wenigen Wochen dort Zeitungsverkäufer, inzwischen ist er Streetworker für Karuna und zuständig für die Kältebahnhöfe Lichtenberg und Moritzplatz. „Am Hauptbahnhof gibt es zwei Großfamilien, eine drinnen, eine draußen, sie betteln aggressiv und schlagen Verkäufer. Das ist ein Dauerthema“, sagt er. Er selbst sei im Frühling 2017 am Bahnhofseingang Washingtonplatz von Bandenmitgliedern verprügelt worden.
„Keine Anzeigen von Obdachlosen“
Hoek sagt, er habe versucht, dies bei der Bundespolizei, die für den Bahnhof zuständig ist, anzuzeigen. Eine Beamtin habe ihn gefragt, ob er obdachlos sei. Als er dies bejaht habe, habe sie ihn weggeschickt. „Die nehmen keine Anzeigen von Obdachlosen entgegen, das hat die Frau mir unmissverständlich gesagt.“
Petra Elten berichtet dasselbe. Schon mehrfach habe sie versucht, bei der Bundespolizei Anzeige zu erstatten. Die Angriffe müssten ja auch auf den Überwachungskameras im Bahnhof zu sehen sein. „Aber im Gegenteil, man glaubt mir nicht. Ich habe sogar Gegenanzeigen wegen Vortäuschung einer Straftat bekommen.“
Die Bundespolizei weist diese Vorwürfe zurück. Man sei unabhängig von der Person automatisch verpflichtet, einer Anzeige nachzugehen, so ein Sprecher zur taz. Tatsächlich gebe es im Hauptbahnhof sehr viele Anzeigen gegen wohnungslose Rumänen, vor allem, weil sie Hausverbote nicht beachteten. Selten würden auch Körperverletzungen und Diebstahl angezeigt. „Wir treffen dazu unsere Maßnahmen in Absprache mit der DB Sicherheit und der Berliner Polizei.“
Letztere ist für die Bahnhofsvorplätze zuständig und erklärte auf taz-Anfrage, ihr lägen keine Erkenntnisse und Strafanzeigen zu „Bettlern, die im Bereich des Hauptbahnhofs ‚verprügelt‘ worden sind“, vor. Ansonsten sei man Hinweisen von Bahnreisenden auf „aggressives und organisiertes Betteln“ am Europaplatz nachgegangen, teils mit zivil eingesetzten Beamten, man habe aber nichts Entsprechendes feststellen können.
Zeltlager an der Heidestraße
In der Tat habe es aber im Sommer bis Herbst 2018 „vermehrt kleine Gruppen“ von in der Regel „Personen aus dem osteuropäischen Raum, überwiegend Rumänen“, gegeben, die vor dem Bahnhof gebettelt hätten, so die Polizei in ihrer schriftlichen Antwort. Die meisten hätten in einem Zeltlager in der Heidestraße gewohnt, das seit November aber nicht mehr existiere – und seither habe man „nur noch vereinzelt rumänische Bettler“ festgestellt – aber Betteln an sich sei ja auch nicht verboten, wenn es nicht „als grob anstößige oder belästigende Handlung wahrgenommen wird“.
Hoek und Elten bestätigen, dass es auf dem Europaplatz zuletzt etwas ruhiger geworden sei. Im Bahnhofsgebäude selbst seien die Banden jedoch nach wie vor sehr präsent. Und dass die Bundespolizei „massiv versagt und nichts tut“, würde Hoek sogar vor Gericht beeiden, wie er sagt.
Was heißt all dies nun für Karuna Kompass? Noch, sagt Mitarbeiter Cladders, habe er von keinen Klagen wegen aggressiven Bettelns mit der neuen Zeitung gehört. Er habe auch noch nicht bemerkt, dass zweifelhafte Verkäufer sich vermehrt große Packen abholen würden. „Aber eigentlich warte ich nur darauf.“
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