taz-Serie "Kinder auf der Flucht" (I): Ein Kuss, dann gingen meine Eltern

Neun Millionen Kinder sind weltweit auf der Flucht - neun Millionen Gesichter und Geschichten. Wir erzählen fünf davon. Auch die von Lobsang Lungtok in Nepal.

Der zwölfjährige Lobsang Lungtok im Klassenzimmer. Er kann schon 60 Seiten aus dem Gebetbuch auswendig. Bild: Ton Koene

Weltweit sind neun Millionen Kinder auf der Flucht, hat die UN-Flüchtlingsorganisation UNHCR kürzlich berechnet. Auch Lobsang Lungtok gehörte zu ihnen. Der Zwölfjährige wurde vor drei Jahren aus Tibet über die Grenze nach Nepal geschmuggelt. Dort lebt er heute als Mönch in Kathmandu. Dies ist seine Geschichte:

Das autonome Gebiet Tibet wurde in den Fünfzigerjahren von der Volksrepublik China annektiert. Bis heute haben 150.000 der 6 Millionen Tibeter ihr Land verlassen, jedes Jahr gehen weitere 3.000 fort. Die meisten davon sind Kinder, die dann ohne ihre Eltern in Indien und Nepal leben. Etwa die Hälfte aller Kinder in Tibet möchte in ein buddhistisches Kloster eintreten. Doch China hat die Anzahl der Mönche und Nonnen gesetzlich beschränkt. Der kleine Lobsang ist - wie die meisten Kinder - nicht allein aus religiösen Motiven von seinen Eltern über die Grenze geschmuggelt worden, er sollte in Nepal eine Ausbildung und ein sicheres Leben bekommen. Im zweiten Teil der taz-Serie, die Ende November erscheinen wird, besuchen der Fotograf Ton Koene und die Journalistin Natalie Righton den zwölfjährigen Zanoessi Nimir, der aus Darfur in den Tschad geflüchtet ist.

"Ich war neun Jahre alt, als ich mit meinen Eltern über die Gipfel des Himalajas zog. Überall lag Schnee, so dass die Wege nicht mehr zu sehen waren. Damit wir nicht in eine Gletscherspalte fallen, ließen meine Eltern zwei Jaks vorauslaufen, langhaarige, tibetische Büffel, die schlauer sind als Menschen. Sie können die Bergpfade durch den Schnee hindurch riechen.

Wir mussten uns oft vor den chinesischen Grenzsoldaten verstecken. Meine Eltern sagten, sie würden auf uns schießen, wenn sie uns erwischen. Das machte mich sehr wütend, aber mein Vater sagte, ich soll meine Klappe halten, sonst würden uns die Soldaten hören. Bei drei anderen, die mit uns flüchteten, erfroren in dieser Zeit Zehen und Finger.

Um 5 Uhr steht Lobsang aus. Sieben Stunden verbringt er mit Beten und Lernen. Aber auch im Kloster wird gespielt. Bild: Ton Koene

Nach sechs Tagen erreichten wir die Grenze zwischen Tibet und Nepal. Dort versteckte mich meine Mutter unter einem Sitz im Bus nach Kathmandu. Sie sagte, ich soll solange still sein, bis in Nepal meine Tante meinen Namen ruft, die sollte mich in Kathmandu abholen und in einem tibetanischen Kloster abgeben. Dann gaben mir meine Eltern einen dicken Kuss und gingen nach Tibet zurück. Sie haben mir erklärt, dass sie in Nepal niemals eine Arbeit bekommen würden, richtig verstanden habe ich das nie. Seither habe ich meine Eltern nicht mehr gesehen. Ich vermisse sie sehr. Heute lebe ich im Kloster. Hier werde ich jeden Morgen um halb fünf geweckt durch einen alten Mönch, der im Innenhof hart auf eine große Schale schlägt. Es hat mich Wochen gekostet, bis ich mich daran gewöhnt habe, so früh aufzustehen.

Ich verbringe jeden Tag sieben Stunden mit dem Beten und dem Studieren der heiligen Schriften von Buddha. Dieses Jahr bin ich im Wettkampf "Gebetsbuch auswendig lernen" Fünfter geworden. Ich habe also 43 andere Mönche geschlagen! Ich kann schon 60 Seiten auswendig. Ich finde es seltsam, dass viele deutsche Kinder nicht in einem Kloster wohnen wollen. Draußen ist doch jeder arm, es ist schmutzig und gibt wenig zu essen. Das habe ich gesehen, als ich das Kloster mal verlassen durfte. Ich kann mir nicht vorstellen, dass man da draußen wohnen will."

Übersetzung: UH

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