stammzellenforschung: Zu schnell, zu weit
Politikern, Ethikern und erst recht der Öffentlichkeit geht es in Fragen der Stammzellenforschung wie dem Hasen im Wettlauf mit dem Igel. Kaum wird ein Tabubruch erörtert, kaum hat sich auch nur der Ansatz einer Diskussion um die nächste zu erwartende Grenzüberschreitung entwickelt, da tönt es schon wieder aus irgendeinem Labor: „Wir sind schon da.“ Gerade haben sich nordrhein-westfälische Wissenschaftler in Israel die schönsten Stammzellen zurücklegen lassen. Ein Münchner Herzforscher ist noch „sehr nachdenklich“, ob er seine seit Monaten in Lübecker Kühlschränken lagernden Exemplare wirklich auftauen soll. Da kommt schon wieder eine neue Nachricht: Forscher im amerikanischen Norfolk haben aus vierzig nur zu diesem Zweck gezüchteten Embryonen neue Stammzellen gewonnen.
Kommentarvon WERNER BARTENS
Der Vorstoß aus den USA irritiert durch zweierlei: Zum einen ist die Geduld des Publikums in den letzten Monaten schon arg mit der Dehnung des Begriffs „Ethik“ strapaziert worden. Den Vogel schießt jetzt William Gibbons, Leiter des privaten Forschungsinstituts in Norfolk, ab: Es sei „ethisch sinnvoller“, wenn die „Spender“ von Ei und Samenzellen – sprich: die Eltern der getöteten Embryonen – von vornherein wüssten, dass ihre Lebendspende nicht der Fortpflanzung, sondern der Forschung dienen wird. Zum anderen ist die „Forschung der vollendeten Tatsachen“ für die Wissenschaft selbst eher kontraproduktiv. Die gezielten Indiskretionen mögen zwar Teil einer Akzeptanzstrategie sein. Die Öffentlichkeit soll begreifen: Der Fortschritt lässt sich nicht mehr aufhalten. Die Forscher scheinen einfach zu machen, was sie wollen. Doch ihr jüngster Schuss könnte auch nach hinten losgehen.
Durch das Vorgehen diesseits und jenseits des Großen Teiches fühlen sich bereits manche Wissenschaftler und Politiker unter Druck gesetzt. Als Reaktion sprechen sie sich hierzulande eher für ein verlängertes Moratorium und zusätzliche Debatten in Politik und Ethikräten aus. Das Gleiche könnte jetzt in den USA geschehen. Gerade war George Bush dabei, seine bisherige Haltung zu lockern und die eingefrorenen Gelder zur Stammzellenforschung wieder aufzutauen.
Deshalb kamen die Experimente aus Norfolk zum falschen Zeitpunkt. Jetzt ärgern sich etliche Wissenschaftler: zu früh zu weit gegangen. Die Ungeduld der Forscher hat so noch etwas Positives: Sie bringt mehr Zeit für öffentliche Debatten.
Werner Bartens ist Arzt und Autor des Buchs „Die Tyrannei der Gene“
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