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robin alexander über SchicksaleEin Sommernachts-Albtraum

Im Haus fehlt die chemische Keule. Und die taz ist sogar zum Totschlagen von Mücken nicht groß genug

Es ist halb drei morgens und genau das, was ich mir unter einer romantischen Sommernacht vorstelle: Die Süße steigt auf Stühle, klettert auf den Tisch, steht im Bett und jagt Mücken. Irgendwie ist sie auf die abseitige Idee verfallen, Mücken stürben, wenn man sie mit einem feuchten Nebel aus einer blauen „Tip“-Glasreinigerflasche bestäubt. Duftkerzen, Autan und Globol, sonst in jedem guten Haushalt als bewährte Waffen gegen Ungeziefer vorrätig, fehlen bei uns leider. Wir sind erst vor ein paar Wochen eingezogen. Und es ist definitiv zu spät, bei der Nachbarin zu klingen und zu fragen: „Borgen Sie uns was zum Kleine-Tiere-Töten?“

Schlimm ist: Ich habe nicht nur eine Ungeziefer jagende Freundin, ich arbeite auch noch bei der taz. Teil eines normalen Zeitungsjobs ist es, z. B. Günter Rexrodt zu interviewen und ihn zu fragen, warum die Bewohner von Berlin beim nächsten Mal FDP wählen sollen. Teil meines Jobs bei der taz ist es zusätzlich, alle vierzehn Tage eine Kolumne über Schicksale zu verfassen. Das ist eine Verantwortung, die mich manchmal nicht schlafen lässt. Vor allem dann nicht, wenn ich vorher noch die Antworten von Günter Rexrodt abtippen muss und meine Freundin nachts Mücken jagt.

Schicksal. Hm. Schicksal. „Dir ist doch bisher noch immer jemand eingefallen!“, hat der Kollege aufmunternd-abweisend gesagt. Wir schreiben abwechselnd jeden Donnerstag. Er schreibt über „In und Out“ und nennt das „Charts“. Willst du nicht diese Woche schreiben? Nein, wer gerade in und out sei, könne er sich schließlich „auch nicht mal eben so aus den Fingern saugen“. Und Schicksale, die kann man sich aus den Fingern saugen oder aus den Rippen schneiden oder eben mal so am Schreibtisch zusammenbasteln, oder wie? Und dann sagt der Kollege, was Journalisten in solchen Fällen immer sagen: „Hast du denn nichts auf Halde?“ Auf Halde? In meiner Kolumne geht es nicht um Bild-Luder und Medienzombies, sondern um persönliche Tragödien, um Geschichten, die das Leben schreibt. Um echte Menschen! Die stapel ich nicht auf Halden! Plötzlich ist der Kollege weg.

Geschätzter Leser, wie Sie sicher schon wissen, meint „Halde“ im Journalistenjargon Texte oder Einfälle, die man sich aufgehoben hat für Zeiten, in denen nichts passiert oder man einfach keine Ideen hat. Unter uns: Natürlich habe ich eine Kolumnen-Ideen-Halde, wo ich spannende Schicksale für harte Winter einlagere. Die schöne Mückenjägerin steht ja eh schon und kann mir mein Notizbuch ins Bett reichen: Da ist zum Beispiel die herbe Französin, die mit einem Regiment der Roten Armee in Tschetschenien war und ausgerechnet über Weihnachten ausgewiesen wurde, jetzt aber . .  . Doch sie kommt erst nächsten Monat nach Berlin! Und die beiden alten Herren, die nach zwei ereignis- und widerspruchsreichen Leben in einem Neuköllner Hinterhof eine riesige Spielzeug-Eisenbahn samt ICE aufgebaut . . . Die beiden sind zur Zeit verreist!

Das eigene Notizbuch hilft also aktuell nicht und die Kollegen lassen mich sowieso im Stich. Ein klassischer Impuls bei Hilflosigkeit ist auch bei mir die Hinwendung zu Autoritäten. Doch schon gestern suchte ich vergeblich Rat beim Vorgesetzten. „Ressortleiter, ein Schicksal bitte!“ Das strenge Auge nur kurz von den aktuellen Agenturmeldungen hebend, antwortete mein Chef: „Ach, dir fällt schon was ein. Was macht übrigens das Rexrodt-Interview?“

Inzwischen geht der Kampf gegen das Ungeziefer in eine neue Runde. Vorsichtige Bemerkung: „Die Mücken bewegen sich doch gar nicht mehr, seit du sie mit dem blauen Zeug erwischt hast!“ „Die stellen sich nur tot, bis wir das Licht ausgemacht haben. Dann summen sie heran und stechen mich. Mich. Immer nur mich. Nie dich!“

Übergang zur prinzipiellen Dimension: „Wer wollte denn unbedingt in einen Altbau ‚nahe am Wasser‘ ziehen?“ „Deine blöde taz taugt noch nicht einmal zum Mücken-Totschlagen!“

Tatsächlich, so muss ich zugeben, ist das Format der Zeitung zu klein, um damit bis unter 3 Meter 80 hohe Decken zu kommen. In meinen ersten unruhigen Schlaf schleicht sich eine Werbeabteilung, die eine Rettungskampagne plant: „Die taz ist zu klein! Probieren Sie es selbst einmal aus, wenn Sie Altbau- und Mückenbesitzer sind. Abonnieren Sie, kaufen Sie Genossenschaftsanteile, damit die taz expandieren kann und auch die dicken Brummer von ganz oben erwischt!“

Dieser Albtraum an Tiermetaphorik lässt mich kurz hochschrecken. Ich weiß längst nicht mehr, wie spät es ist. Doch beim erneuten Einschlafen kreisen meine Gedanken: Muss morgen eine Mücken-Kolumne schreiben. Und vorher noch einen fliegenden Rexrodt erschlagen. Das ist mein Schicksal.

Fragen zum Schicksal?kolumne@taz.de

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