: "Bessere Polizeiausbildung reicht nicht"
■ In Frankreich wächst die Massenarbeitslosigkeit seit fünfzehn Jahren parallel zum Rechtsextremismus, und die Polizei kommt mit dem daraus entstehenden Gewaltpotential nicht klar: Regierungsberater
Der 47jährige Christian Delorme ist Priester in Lyon und seit Jahren mit der Problematik der französischen Vorstädte befaßt. Er ist Mitglied des „Conseil National des Villes“, der die für Stadtpolitik zuständige Kabinettsministerin berät, sowie des „Haut Conseil à l'intégration“, der den Premierminister in Immigrationsfragen berät.
taz: In Frankreich sind binnen 24 Stunden zwei Vorstadtjugendliche von Polizisten erschossen worden. Ist das ein Zufall?
Christian Delorme: Die Umstände der beiden Todesfälle sind ganz unterschiedlich. Der Jugendliche aus Dammarie-les-Lys bei Paris ist im Zusammenhang einer durchbrochenen Polizeibarriere getötet worden. Der Familienvater in Lyon wurde in einer Polizeiwache getötet. Aber es stimmt, daß es in gewissen französischen Stadtteilen sehr große Spannungen zwischen Jugendlichen und Ordnungskräften gibt, was leider manchmal zu Dramen führt. Seit rund 15 Jahren passiert so etwas.
Was hat zu der Verschlechterung der Beziehungen in den Vorstädten geführt?
Der Arbeitsmarkt. Ganze Generationen von Jugendlichen sind untätig. Sie haben weder eine Beschäftigung noch irgendeine Hoffnung. Sie leben permanent in einer Art Groll gegen die Gesellschaft. Wenn es ein tragisches Ereignis wie das in Lyon gibt, drückt sich eine Wut aus.
Ist die Polizei auf die Vorstadtproblematik vorbereitet?
Das ist ein echtes Problem. Seit 1981 (als die Sozialisten an die Macht kamen, d. Red.) gibt es entschieden weniger Polizeifehler als in den 70er Jahren. Heute haben die Polizisten ein höheres schulisches Niveau und eine bessere Ausbildung. Aber das reicht nicht. Die Polizei ist auf den Kontakt mit der verzweifelten Jugend in den Vorstädten nicht vorbereitet. Viele Polizisten haben weder Kenntnis noch Kontakte oder gar Sympathie mit den Einwanderungskulturen, aus denen viele Vorstadtjugendliche stammen.
Sie sprechen von einem höheren Bildungsniveau bei der Polizei, zugleich hat sich dort aber die Front National eingenistet.
In Frankreich erstarkt, und das ebenfalls seit rund 15 Jahren, eine rechtsextreme Partei. Unglücklicherweise ist der Anteil der Polizisten, die die rassistischen Ideen der Front National teilen, genauso hoch, oder vielleicht sogar noch höher, wie bei der Bevölkerung insgesamt. Wenn ein Mann, der im Staatsdienst steht und dazu noch bewaffnet ist, der Front National nahesteht, ist das für die Gesellschaft eine Katastrophe.
Wollen Sie Rechtsextreme aus der Polizei ausschließen?
Polizisten sind zur Zurückhaltung im Dienst verpflichtet, ganz egal, was ihre politische Meinung ist. Die Führung der Polizei muß besser aufpassen. Wenn es auf Polizeiwachen Sympathiebekundungen mit der Front National gibt, muß das sehr streng verfolgt werden.
Was muß an der Polizeiausbildung verbessert werden?
Die Nationalpolizei müßte für interethnische Beziehungen ausgebildet werden, wie in Großbritannien. In Frankreich gibt es schließlich eine große Bevölkerungsmischung. Die Kenntnis der afrikanischen, nordafrikanischen und türkischen Kulturen ist wichtig für Polizisten. Heute haben sie statt Sympathie bloß Unwissen und Angst.
Die Bilder der letzten Nächte lassen an Los Angeles denken. Ist Frankreich auf dem Weg zu einem Krieg zwischen Städten und Vorstädten?
Seit 15 Jahren heißt es, die Banlieues werden explodieren. In Wirklichkeit kommt es zu urbaner Gewalt, wenn es Dramen wie das von Lyon gibt. Die meisten Jugendlichen haben, trotz ihrer Frustration, keine Lust, sich in Gewalt zu stürzen. In Los Angeles war die Größenordnung auch eine andere. Da haben Tausende von Jugendlichen tagelang revoltiert. Die Nationalpolizei ist in der Lage, Rassismus und Gewalt zu verhindern. Aber wir müssen sehr wachsam sein. Interview: Dorothea Hahn
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