"Am 6 Januar 1977 verließ das Frachtmotorschiff 'Lucona' den Hafen von Chioggia bei Venedig..."

Am 6.Januar 1977 verließ das Frachtmotorschiff „Lucona“ den Hafen von Chioggia bei Venedig mit Ziel Hongkong. Gut zwei Wochen später, am 17.Januar, verschwand die „Lucona“ vor der Malediven-Insel Minicoy spurlos und mit ihr sechs der zwölf Personen, die sich an Bord befanden. Bald darauf klagte der Geschäftsführer der K.u.k.-Hof- und Zuckerbäckerei Udo Proksch, der die „Lucona“ gechartert hatte, gegen die österreichische „Bundesländer„-Versicherung auf Schadensersatz in Höhe von rund 250 Millionen Schilling (ca. 36 Millionen D-Mark). Nachdem er in zwei Instanzen gewonnen hatte, strengte die Versicherung gegen ihn und seinen Kompagnon, den Bundesbürger Hans Peter Daimler, einen Strafprozeß an, der gestern, den 30. Januar, in Wien begann.

Die Anklage lautet auf Versicherungsbetrug und Sprengstoffverbrechen mit möglicher Todesfolge. Proksch und Daimler sollen, so die Anklage, in Chioggia nicht die angegebene hochwertige Uranerzaufbereitungsanlage, sondern Geräte von Schrottwert aufgeladen und die Lucona durch Sprengung und ohne Rücksicht auf Menschenleben in tiefen Gewässern zum Sinken gebracht haben, um die Versicherungssumme kassieren zu können. Nun ist Proksch in Österreich nicht nur als Geschäftsmann, sondern auch als Vertrauter der SPÖ-Führung bekannt. In der Folge von Aussagen vor dem parlamentarischen Untersuchungsausschuß in Sachen „Lucona“ mußte denn auch Innenminister Karl Blecha (SPÖ) wie etwas später Außenminister Leopold Gratz zurücktreten, weil sie versucht hatten, ihrem Spezi zu Hilfe zu eilen. Die rechte Boulevardpresse, froh, den Sozis eins auswischen zu können, hat sich auf die „Affäre Lucona“ gestürzt und vertritt seither ohne weitere Zweifel die These von der Schiffssprengung. Unterstützt wird sie dabei durch den Autor Hans Pretterebner, der mit seinem Buch Der Lucona -Skandal Marksteine für die Anklage gesetzt hat.

Doch was zunächst so einleuchtend wirkte, hat gleichwohl seine Haken, wie der bundesdeutsche Verteidiger des in die BRD geflohenen Angeklagten Daimler, Erich Samson, in einem Bericht nachgewiesen hat.

Samson zweifelt die These von der Sprengung der Lucona an, ohne jedoch eine stimmige Gegenthese aufzustellen. Zahlreiche Widersprüche in den Zeugenaussagen und Unterlagen des Gerichts seien nicht berücksichtigt worden, so Samson:

1. Die „Lucona“ wurde in Chioggia in Anwesenheit eines Vertreters der „Bundesländer„-Versicherung beladen. Der Bericht darüber wurde jedoch nie öffentlich gemacht.

2. Die Aussagen des Kapitäns der „Lucona“ über das Gewicht des Schiffes während der Fahrt sind nachweislich falsch.

3. Auch die Aussagen über eine gezielte Drosselung der Fahrtgeschwindigkeit sind widersprüchlich. Nur so wäre aber erklärlich, wieso die „Lucona“ unmittelbar vor ihrem Verschwinden in besonders tiefen Gewässern fuhr.

4. Aus den Zeugenaussagen über den „Untergang“ der „Lucona“ kann ihre Sprengung nicht bewiesen werden.

5. Für eine der sechs verschwundenen Personen gibt es einen Totenschein. Tatsächlich ist der Verbleib aller ungeklärt.

6. Alle drei Offiziere der „Lucona“ waren mit gefälschten oder manipulierten Papieren unterwegs.

Fährt die „Lucona“ also vielleicht noch irgendwo auf den Weltmeeren? Führen die angeblich Toten vielleicht heute darauf ein paradiesisches Leben? Oder ist sie tatsächlich untergegangen, vielleicht, weil sie auf ein unter Wasser liegendes Schiffswrack aufgelaufen ist, und die Sechs liegen am Meeresgrund? Klar ist nur, daß nichts so klar ist, wie es scheinen mochte. Die in Wien erscheinende Monatszeitschrift 'Forvm‘ geht in einem Fortsetzungs-„Kriminalroman“ den Widersprüchen im Lucona-Verfahren nach. Darin heißt es: „Bei jedem Justizirrtum gehe es nur um eines, meint Proksch -Anwalt Karl Zerner, nämlich um die Details, und die Reaktion darauf sei immer Ungeduld. Unweigerlich erhalte man zur Antwort, man möge doch aufhören mit diesen ewigen Details, endlich eingehen auf die großen Züge der Geschichte, die prinzipiellen Dinge, die unbestreitbaren Fakten und Zusammenhänge. Als würde nicht auch jede grundlegende Linie, jedes Tatsachenkonstrukt, jeder bedeutsamere Zusammenhang nur aus einer Summe von Details bestehen. Das Argument: „Wenn da nur die Hälfte dran stimmt, sei das schlimm genug“, birgt für den Anwalt schon die Antwort in sich: „Wenn nur die Hälfte stimmt, ist das Ganze nur eines, außer Verdrehung und Lüge, nämlich falsch.“ Die taz übernimmt hier einen Auszug aus dem „Kriminalroman“.

-ant