„Kein Wachstum ohne Sozialstaat“

In Skandinavien gelingt scheinbar die Quadratur des Kreises: Wachstum und soziale Sicherheit, hohe Steuern und konkurrenzfähige Ökonomie. Das glückt, weil viel in Bildung investiert wird, so der Sozialwissenschaftler Joakim Palme

taz: Herr Palme, neuerdings wird in Kontinentaleuropa lagerübergreifend vom „skandinavischen Modell“ geschwärmt. Warum?

Joakim Palme: Weil das skandinavische Modell ökonomisch erfolgreich ist. Die Wachstumsraten in Skandinavien waren in den vergangenen zehn Jahren deutlich höher als im Rest Europas. Sie beweisen, dass man Volkswirtschaften mit hohen Steuern, viel Effizienz, Wachstum und profitablen Unternehmen betreiben kann.

Also macht die Kombination von Erfolg und sozialem Zusammenhalt Skandinavien zum Vorbild?

Ja, dass jetzt alle so von Skandinavien schwärmen ist auch eine Reaktion auf die grassierenden Zweifel, ob sich die europäische Sozialtradition überhaupt mit einer globalisierten Konkurrenzökonomie verträgt. Die skandinavischen Länder zeigen: Sie vertragen sich. Die skandinavischen Länder haben übrigens eine lange Tradition einer global orientierten, offenen Wirtschaft mit Unternehmen, die am Weltmarkt stark sind – von Volvo bis Ikea. Aber die skandinavischen Länder haben Wachstum mit einer erfolgreichen Sozialpolitik kombiniert, die nicht nur Armut und Ungleichheiten reduziert hat, sondern auch andere Probleme angegangen hat – etwa die Ungleichheit zwischen den Geschlechtern, aber auch die Herausforderung alternder Gesellschaften.

Viele meinen, dass ein ausgebauter Sozialstaat ein Wettbewerbsnachteil ist, weil hohe Steuern und gute Löhne die Unternehmen gegenüber der globalen benachteiligen. Warum ist das in Skandinavien nicht so?

Die These wird vor allem von US-Ökonomen vertreten und folgt auch aus einer Erfahrung des US-Wohlfahrtsstaats. Der funktioniert so, dass der Staat Steuern kassiert und das Geld für arme Leute ausgibt, um denen das Überleben zu sichern, ihren Kindern Schulausbildung etc. Der Großteil der Arbeiter- und der Mittelklasse bekommt nichts. In Skandinavien ist die Mittelklasse in das Wohlfahrtssystem integriert – über das Versicherungssystem, über Transfers. Hier ist der Wohlfahrtsstaat eine breit angelegte Investition in Humankapital. Deshalb ist der Wohlfahrtsstaat in Europa auch so populär, im Unterschied zu den USA. Wir müssen also über das spezifische Design der Wohlfahrtsprogramme diskutieren. Dieses Design entscheidet, ob es die Konkurrenzfähigkeit einer Gesellschaft stärkt oder schwächt – und weniger die Höhe der Steuern.

Wohlfahrtsprogramme und Weltwirtschaftskonkurrenz können sich also gut vertragen – müssen das aber nicht?

Genau. Manche sind gut für Wachstum, manche sind schlecht für Wachstum.

In soziale Dienste zu investieren, in Schulen, Kindergärten, Umschulungen, ist produktiv – sich auf Überweisungen an Arbeitslose zu beschränken ist eher unproduktiv?

Exakt. Die Länder in Nachkriegseuropa, die viel in Bildung investiert haben, hatten auch hohe Geburtenraten und hohes Wachstum. Und die Länder, die höhere Steuern hatten, hatten auch höheres Wachstum. Dabei ist nicht der Umfang des Steueraufkommens für das Wachstum entscheidend, sondern die Frage, wofür diese Steuern ausgegeben werden. Die Bildungsausgaben sind das Entscheidende – für die soziale Gleichheit, aber auch für das Wirtschaftswachstum. Außerdem sind die sozialen Dienste, wie wir sie in Skandinavien haben, nicht nur eine Investition in das Humankapital. Es sind auch Jobangebote – in einem Sektor, in dem traditionell Frauen arbeiten. Deshalb haben wir eine hohe Frauenerwerbsquote in Skandinavien.

Mit den Sozialausgaben wird also Arbeit geschaffen?

Und mit der höheren Erwerbsquote schafft man natürlich auch eine größere Anzahl an Steuerzahlern, was die Finanzierung des Wohlfahrtsstaats wiederum auf eine breitere Basis stellt. Dabei geben die Skandinavier gar nicht so viel Geld für den Wohlfahrtsstaat aus. Am meisten geben in Europa die Franzosen aus, gefolgt von Deutschland – und erst dann kommt Schweden.

Aber offenbar ist die Wohlfahrtsfinanzierung in Deutschland weniger effizient.

Ja, nehmen wir nur die Zuwendungen für allein stehende Mütter. Wir geben ihnen keineswegs generös viel Geld, im Gegenteil. Aber wir haben soziale Dienstleistungen, die es ihnen ermöglichen, sowohl zu arbeiten als auch Kinder zu haben.

Die deutsche Regierung will das einkommensabhängige Elterngeld einführen. Geht das in die richtige Richtung?

Ich kenne mich in den Details nicht aus. Es ist ein erster Schritt, um etwas mehr Balance zwischen den Geschlechtern herzustellen. Um die steht es in Deutschland ja ziemlich schlecht. Die Basisabsicherung für jene, die keinen Job haben oder studieren, ist aber genauso wichtig. Das ist Gebot der Gerechtigkeit.

Welche Auswirkungen hat all das auf die Gleichheitskultur? Der deutsche Sozialstaat hat ja nicht viel an der Sozialvererbung geändert – wer aus der Elite stammt, wird Elite, wer als Unterprivilegierter geboren wird, bleibt Unterprivilegierter. Ist das in Skandinavien anders?

Natürlich ist die Sozialvererbung auch in Skandinavien noch stark, aber sie nimmt ab. Das ist eine entscheidende Frage für die Sozialstaatsdiskussion in Europa. Die „Chancengleichheit“ wird heute so groß geschrieben – aber man weiß, dass wir die „Gleichheit der Chancen“ nicht erreichen werden, wenn wir Angst davor haben, die „Gleichheit der Bedingungen“ herzustellen.

Das heißt: Ohne Umverteilung geht das nicht?

Ja.

In Kontinentaleuropa werden die Sozialsysteme vorwiegend über Lohnnebenkosten finanziert, in Skandinavien über Steuern. Wie bedeutend sind diese Unterschiede?

Nicht sehr bedeutend.

Tatsächlich? Viele Experten meinen, wegen der Steuerfinanzierung sei der Sozialstaat nicht so sehr von der Lage am Arbeitsmarkt abhängig und außerdem verteuere er die Arbeit nicht. Stimmt das?

Nein, das ist nicht so wichtig. Die Globalisierung macht es sehr schwierig, Kapital zu besteuern. Kapital ist mobil. Das heißt: Auch die skandinavischen Wohlfahrtsstaaten sind ganz überwiegend über Steuern finanziert, die auf Lohneinkommen erhoben werden. Ob man das Einkommenssteuer nennt oder ob man Sozialabgaben von Lohn abzieht, ist nicht zentral. Denn immer wird der Sozialstaat über die Abgaben auf Löhne finanziert, die Differenz ist vielleicht semantisch, aber sie ist ökonomisch nicht relevant.

Ist es eigentlich für kleine Staaten einfacher, einen wettbewerbsfähigen Wohlfahrtsstaat zu unterhalten als für größere Länder? Frankreich, Deutschland, haben große Probleme. Sind die Kleinen im Globalisierungzeitalter einfach die Schnellen, Besseren?

Sie können mir glauben, es ist wirklich nicht das erste Mal, dass ich das gefragt werde. Um ehrlich zu sein: Ich weiß es nicht. Entscheidend ist in jedem Fall, ob wir einen sehr föderalisierten oder einen eher zentralisierten Staat haben. Je föderalisierter, umso schwieriger ist es, Dinge zu ändern. Ob die Größe als solche schon ein Nachteil ist? Ich bin von dieser These nicht restlos überzeugt.

INTERVIEW: ROBERT MISIK