portrait : Sandmann auf Wüsten-Mission
Es ist nicht seine erste Reise in dieses Berichtsgebiet. Schon einmal, 1979, schwebte das Sandmännchen in Bagdad ein: Sein fliegender Teppich landete nahe der historischen Stadtmauer der irakischen Hauptstadt, wo Kinder den ostdeutschen Zipfelmützenträger erwarteten.
27 Jahre später ist es wieder so weit: das Sandmännchen besucht erneut den Nahen Osten. Der Fernsehsender al-Dschasira hat 78 Sandmännchen-Folgen eingekauft, vom Herbst an wird er sie auf seinem Kinderkanal ausstrahlen. Dann können sich auch Kinder in Katar, Kabul oder eben Bagdad jeden Abend fest die Augen zuhalten, wenn der Sandmann seinen Schlafsand verstreut. So wie es ihre Altersgenossen in Dortmund, Warschau oder Hanoi auch tun.
Mit seinem langen Bart und dem stets bedeckten Kopf dürfte der 46-Jährige gut ankommen in der arabischen Welt. Er kennt internationale Gepflogenheiten und weiß sich den Landessitten entsprechend zu kleiden: Stets trägt er langes Beinkleid und neigt selten zu modischen Verfehlungen. Kein Wunder, schon als Minderjähriger reiste der früh Ergraute durch die Welt, allerdings vorzugsweise durch die sozialistischen Bruderstaaten – er war eben ein echtes Kind der DDR. Beim Ostberliner Fernsehen hatte man am 22. November 1959, exakt eine Woche vor dem West-Sandmännchen, die Abendgruß-Puppe ins Programm gehoben. Wie alles im Kalten Krieg waren auch diese abendlichen zehn Fernsehminuten ein Politikum. Denn Ilse Obrig, die Erfinde- rin der Puppe, war kurz zuvor zum „Feindsender“ SFB gewechselt, und man wollte dem von ihr geplanten West-Sandmännchen zuvorkommen.
Das Ost-Sandmännchen erfüllte denn auch alle Anforderungen an eine sozialistische Persönlichkeit: es sagte nichts und fuhr weisungsgemäß überall dorthin, wo es galt, die Schönheiten der größten DDR der Welt und ihrer Bruderstaaten zu präsentieren. Es besuchte etwa 1970 die Jungen Pioniere in ihrem Sommerlager, steuerte 1966 die sowjetische Weltraumkapsel Lunochod I und schaute 1970, mitten im Krieg, schon mal mit seiner Fahrradrikscha in Vietnam vorbei. Nie zeigte es dabei eine Gefühlsregung, es ließ sich lediglich zu einem stummen Winken hinreißen.
Dieses Indifferente ist es wohl auch, was das Sandmännchen als Projektionsfläche für Kinder auf der ganzen Welt tauglich macht. Es könnte alles sein: ein gütiger Wächter über ihre Träume oder ein Albtraum in Schnabelschuhen. Nun muss jedes Bagdader Kind selbst herausbekommen, was der stumme Bartträger ihm bedeutet. Das Sandmännchen ist auf dem Weg. ANJA MAIER