netzgeschichten: Mehr Demokratie wagen
Am 26. Juli 2000 beschloss das Bundeskabinett eine neue gemeinsame Geschäftsordnung der Bundesministerien. Meistens lese ich an solchen Nachrichten vorbei, doch diesmal hielt ich inne. Mein Interesse erregte eine Passage, in der es heißt, Bürgerinnen und Bürger sollten künftig frühzeitig nach ihrer Meinung zu Gesetzentwürfen befragt werden. Per Internet werden die Entwürfe einsehbar sein, in E-Mails kann frau/man einen Kommentar abgeben. Ich merkte auf. Das Internet fördert die Demokratie? Willy Brandts Visionen – technisch verwirklicht? Welch besseres Argument gäbe es, die wenigen noch internetskeptischen Zeitgenossen von dem gesamtgesellschaftlichen Nutzen dieses Mediums zu überzeugen?
Ich wollte Genaueres wissen. Wird hier auf dem Verwaltungsweg der Abschied von der repräsentativen Demokratie eingeläutet? Vollbringt das Internet auf einen Streich, was wir mit unzähligen Demonstrationen, in denen wir unsere müden Körper auf die Straße geschleppt und dem Polizeiknüppel ausgesetzt haben, nicht erreichen konnten?
Anruf bei der Pressestelle des Bundesministeriums des Innern. Eine Frau mit jung klingender Stimme, deren Namen ich vergessen habe, nahm das Gespräch entgegen. Ich erläuterte ihr mein Anliegen und erntete Schweigen. „Hallo, sind Sie noch da?“ Ah ja, sie war noch am anderen Ende. Sie schien sich meine Fragen aufzuschreiben. Und dann fragte sie nach meiner Telefonnummer und sagte, ich würde am nächsten Tag zurückgerufen.
Wurde ich natürlich nicht. Also rief ich noch mal an. So leicht lässt frau sich ja nicht abwimmeln, wenn grundlegende Belange der Demokratie berührt sind. Wieder eine Frauenstimme, diesmal etwas älter. Zum großen Zusammenhang kommen wir später, dachte ich mir, und fragte erst einmal, ob und wie die E-Mails ausgewertet würden. Sehr forsch und nicht gerade auskunftsfreudig fiel die Antwort aus. Seither weiß ich immerhin, dass es eine Auswertung geben soll. Etwas eingeschüchtert tastete ich mich weiter vor. Schließlich blieben ja noch viele Fragen offen. „Nach welchen Kriterien werden denn die Meinungsäußerungen der Bürgerinnen und Bürger berücksichtigt?“, sprach ich neugierig in die Muschel. „Man schaut, ob es gute Vorschläge gibt“, hörte ich die Dame sagen.
Da dämmerte mir, dass das Innenministerium eine effektive Pressesprecherin besitzt. Unsere Regierung will nichts von ihrer eigenen Frohen Botschaft wissen, und dieser Dame kommt die Rolle zu, die obersten Vertreter des Volkes gegen die selbst beschlossenen Verbesserungen abzuschirmen. Und obwohl ich die Antwort nun schon hätte erahnen können, stellte ich die dritte Frage doch noch. Welche Auswirkungen versprach man sich denn von der Maßnahme? „Bürgerbeteiligung“, tönte die Antwort aus dem Hörer. Ich beendete dankend das Gespräch.
Meine Zweifel über die Absichten der Bundesregierung waren beseitigt. Sie wollte mir keine Frohe Botschaft verkünden, keine Wiederauferstehung der Ideen Willy Brandts feiern und nicht die Ankunft eines neuen Zeitalters bejubeln. Obwohl doch jetzt alle technischen Möglichkeiten vorhanden waren!
Ich fragte bei der Opposition nach, ob sie denn wenigstens das Gesetz verstanden hätten. Aber auch dort hatte man noch keine gute Nachricht vernommen. Resigniert legte ich die Hände in den Schoß und sann vor mich hin. Es konnte nicht sein. Sicherlich würden sie bald verstehen. Sie würden sich freuen und jubeln. Das neue Zeitalter stand doch bevor!
ELISABETH KRAFT
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