nebensachen aus washington : Neue Fleischeslust im Vegetarierreich
Takoma Park ist das „Berkeley“ der Ostküste. Fällt in Washington der Name des idyllischen Vororts, haben alle eine klare Vorstellung: Hier wohnen Althippies, Friedensbewegte, hier wird Yoga geübt und Müll getrennt, sitzen Mütter in Batikkleidern auf dem Spielplatz, und alle sind natürlich Vegetarier.
Doch derzeit erlebt die Aussteigerenklave tierlieber Pflanzenkostler eine Gegenrevolution. Der Wochenmarkt verkauft Wurst und Rinderfilets. Der Bioladen hat eine Fleischabteilung. Mediziner empfehlen Patienten ein saftiges Steak, während der Rest Amerikas immer vegetarischer wird und sogar Burger King Veggie-Buletten anbietet.
Yogalehrerin Martha Webster ahnte nicht, dass sie sich mal nach Fleisch sehnen würde. Ihren Schülern predigte sie, ein guter Yogi verspeise keine tierische Nahrung. Nun, teils zu deren Entsetzen, verkündet sie das Gegenteil. Zehn Jahre ernährte sie sich vegetarisch. Irgendwann fühlte sie sich nur noch unmotiviert und schwach. Freunde rieten: Iss Huhn. „Es war wie ein Lebenselixier. Mein Körper platzte vor Energie“. Erst brach ihr Weltbild zusammen, doch dann erkannte Martha, dass Fleischverzehr natürlich ist. Früher hieß die Alternative vegetarisch oder Hormonfleisch. Heute kann sie reinen Gewissens in die Hühnerbrust beißen, solange das Federvieh bis zum Schlachttag ein frohes Dasein führte.
Hüter der reinen Lehre sind wenig begeistert und fürchten einen Dammbruch. „Die Seele unseres Ortes geht verloren“, warnt Umweltaktivist Nick Hellers. Bald werde die nach Bäumen und Blumen duftende Luft durch fettigen Bratengeruch der Grillkultur verpestet. Dann sei es nur noch eine Frage der Zeit, dass auch hier, in der „People's Republic of Takoma Park“, Geländewagen statt Käfer rollten.
Doch für Bob Atwood, Geschäftsführer des Ökoladens, ist der Zeitenwechsel schlicht eine Frage des Überlebens. Große Supermärkte würden immer mehr „organic food“ anbieten. Da die Leute alles mit dem Auto erledigten, wünschten sie sich „one stop, one shop“. Eine deutliche Mehrheit der Genossenschaftler votierte deshalb nach harter Kampfabstimmung dafür, das Attribut „vegetarisch“ aus der Satzung zu streichen. Dies führte anfangs zu einem kleinen Aufruhr. Kunden schrieben Protestbriefe, drohten mit Konsumstreik und überfluteten die Lokalzeitung mit Leserpost. Derweil haben sich die Wogen geglättet, Fleischesser trifft nicht mehr der Bannstrahl ihrer Nachbarn.
Eine andere Erklärung für die neue Fleischeslust hat Tom Whitaker, ein ergrauter Wissenschaftler mit Zopf. Niemand verziehe mehr das Gesicht beim Wort vegetarisch. Vegetarier seien so stinknormal, dass es gar keinen Spaß mehr mache, die Protestkultur zu pflegen. Aber Takoma Park wäre nicht Takoma Park, sollte der Fleischverzehr so profan sein wie anderswo. „Bevor ich den Braten verschlinge, gedenke ich einige Sekunden des Huhns, dass sein Leben für meinen Gaumen und Magen gab.“
MICHAEL STRECK