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lidokinoEstablishment, Marginalisierung: Heute beginnt die 58. Filmbiennale in Venedig

Neue Sportart Löwenwerfen

Vom Flugzeug aus gesehen ist es nur ein kleiner grauer, unspektakulärer Strich, der fast im Dunst verschwindet. Selbst in der Landekurve erkennt man vom Lido wenig mehr als die riesige gelbe Campari-Reklame des abgeblätterten Hotels an der Bootsanlegestelle. Immer wieder schön, am schläfrigsten Ort von ganz Italien anzukommen. Braun gebrannte Rentnerinnen, die ihre Klunker auf dem Fahrad ausführen, dicke alte Männer mit dicken alten Hunden und abends gemeinsames Flanieren auf der großen Promenade. Einen Tag vor der Eröffnung der Filmbiennale wirkt der Ganzjahreskurort derart sediert, dass man sich sehr gut vorstellen kann, im Hotel des Bains einen der schicken weißen Liegestühle zu mieten und wie Gustav von Aschenbach langsam aus der Welt zu dämmern.

Die örtlichen Zeitungen sehen das natürlich anders. Der Lido ist allein schon deshalb von internationaler Weltwichtigkeit, weil hier in den nächsten zwei Wochen kein Mensch mehr ein Zimmer findet, „genau wie beim G-8-Gipfel in Genua“ schreibt Il Gazzetino stolz. Freudig verweisen die Blätter auf das schicke Hotelschiff „Cezanne“, das die Filmbiennale mit zusätzlichen siebzig Zimmern versorgt und „auch schon beim Gipfel in Genua um Einsatz war“. Am Wochenende gab es vor Venedigs Gefängnisgebäude eine kleine und friedliche Post-G-8-Demonstration, und auf dem Festival präsentiert ein Regiekollektiv seine (nach dem Festival von Locarno neu geschnittenen) G-8-Videos mit anschließender Diskussion. Zumindest im italienischen Gazzettendiskurs mausert sich Genua schon jetzt zu einer Art nationaler Kulturleistung.

Wenn heute Abend die Filmbiennale mit Milcho Manchewskis Balkan-Western „Dust“ eröffnet wird, beginnt zumindest für ihren Leiter „ein neues Kapitel in der Geschichte der internationalen Festivals“. Tatsächlich ist es gar nicht so einfach, sich in Alberto Barberas neu eingerichtetem Wirrwarr aus verdoppelten Sektionen und neuen Löwen zurechtzufinden. Als erstes A-Festival der Welt hat Venedig in diesem Jahr zwei Wettbewerbe. Den Unterschied zwischen beiden kann selbst der Festivaldirektor nicht wirklich erklären. Während der traditionelle Wettbewerb „Venezia 58“ für das „klassische Autorenkino“ sorgt, sollen in „Cinema del Presente“ die „eher experimentellen Filme laufen, Arbeiten mit offensichtlichen Brüchen und Filme aus unbekannteren Filmländern“ – was sich ein wenig nach Establishment hier und Marginalisierung dort anhört.

Werner Herzog, sozusagen einer der Klassiker des Autorenkinos, zeigt in Venedig „Invincible“, eine Varietégeschichte im Berlin der Weimarer Republik. Kurioserweise läuft Herzogs Film aber nicht im Auorenwettbewerb, während sich Larry Clarks neuer Film „Bully“, den Barbera jetzt schon reißerisch als Skandalfilm anpreist, dort eingekuschelt hat. Es geht um zwei amerikanische Provinzteenies, die sich ihren Lebensunterhalt mit dem Verscherbeln von Gewalt-, Snuff- und Kinderpornos verdienen.

Im Hauptwettbewerb wird nach wie vor ein über den Zeitläuften thronender Goldener Löwe verliehen, während im „Cinema del Presente“ eine Geldsumme und der „Löwe des Jahres“ den leichten Anstrich zeitgeistigen Eintagsfliegenkinos verbreiten. Und da Löwenwerfen schon die neue Sportart ist: Außer dem Ehrenlöwen für Eric Rohmer gibt es für das beste Regiedebüt des Festivals noch einen „Löwen der Zukunft.“ Im Gespräch sind angeblich auch noch Löwen für den gewaltfreiesten Film, Löwen für die effektvollste Pressekonferenzen und Löwen für die schönsten Festivalkolumnen.

Den Löwen für das mondänste Großereignis bekäme wahrscheinlich die Gala der American Foundation for Aids Research. Unter Vorsitz von Elisabeth Taylor, gesponsert von Bulgari findet am 31. August auf der Insel San Giorgio Maggiore ein pompöses Abendessen mit Stars und Show statt. Auch taz-Leser können dabei sein, sollten aber vorher reservieren, Eintrittskarten (1.500 Dollar) und Tische (15.000 Dollar) unter Tel. 00 12 12/8 06 17 53.

KATJA NICODEMUS

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