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Archiv-Artikel

kurzkritik: „unschuld“ im concordia Verirrung auf dem Todessteg

Norddeutschland im Herbst – eine Atmosphäre als Metapher. Tristesse im sehnsuchtsmüden Herzen, die gischttobende Nordsee vor den Füßen. Am Strand der Gesellschaft leben vom Schicksal Zerzauste, die um ihre Würde kämpfen und scheitern, sich miteinander verstricken und wieder verlieren. Fatalisten, Versehrte, Verzweifelte, Alleingelassene, Einsame, Unglücksjunkies.

Sie haben Schuld auf sich geladen – und gieren nach Unschuld. Oder sie suchen ratlos nach Sinn – indem sie Schuld auf sich laden wollen. Dea Lohers Stationendrama „Unschuld“ ist zutiefst politisches Theater, es zeigt gesellschaftliches Leben, das weder im Innersten noch Äußeren zusammengehalten wird: Lebenslinien, Abbrüche, Fragmente des fehlenden Ganzen. Als Fixpunkt, einladend fast und abschreckend zugleich, wirkt hier die Zukunft: der Abgang ins Meer. Die Figuren werden Zeugen von Selbstmorden, berichten davon, begehen Selbstmord oder träumen vom Selbstmord. Und die Frage des Stücks lautet: Warum bringen sich so viele nicht um?

Trotzdem ist kein Theater des Untergangs zu erleben, sondern eines, das mit poetischer Eindringlichkeit den Stillstand und das Ausblenden uns vertrauter Werte und Strukturen zeigt. Peter Dorsch gelingt im Concordia eine wunderlich leichte, in der Dunkelheit vielfarbig schillernde Inszenierung. Er hat das aus Dialogen, Erzählungen, Chören, Regieanweisungen skizzierte Panoptikum in die offene Form des epischen Theaters übersetzt, spielt lustvoll mit ästhetischen Möglichkeiten, um den unterschiedlichen Temperaturen des szenischen Mosaiks nachzuspüren. Short Cuts, so disparat wie die Welt um uns herum.

Die Schauspieler irren auf und um eine Art Todessteg und erkunden darstellerische Mittel für die Hoffnungen, Zweifel, Ängste, die sich ordnen und wieder zerfallen und dabei die Figuren beherrschen und dabei die Trostlosigkeit ihres Daseins offenbaren. Eben noch lacht man über einen satirisch bösen Monolog, dann erstarrt der Blick auf einen psychischen Scherbenhaufen. Nur das wieder arg disparate Theaterlabor-Ensemble trübt den Premiereneindruck. Weitere Aufführungen: 6., 9., 10. und 11. Januar, jeweils 20 Uhr.JENS FISCHER