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hamburger szene von Petra SchellenAuferstanden am Alsenplatz

Manchmal ist das Leben schneller als das Begreifen. Wie ein rasant abgespulter Film, mit Details hantierend, die als Bedeutungsfetzen ankommen und erst im Nachhinein zur Geschichte montiert werden. Neulich, ein Knall auf der Straße an der Bushaltestelle Alsenplatz: Ein Auto fährt gegen ein paar Tauben. Komisch, dass es die erwischt hat, denke ich noch. Die sind doch sonst so beeindruckende Last-Minute-Flüchter.

Aber egal, die eine hat’s geschafft und fliegt in den Himmel auf, lässt nur ein paar Federn zurück. Ein paar Federn und ein Bündel, das zuckt. Es war wohl doch eine ganze Taube, sie liegt verdreht, ist irgendwann still.

Ich schaue weg, will das Tier nicht sterben sehen. Ich lenke mich ab, tagträume dies und das, habe sie schon vergessen – und werde geweckt, weil da hinten Autos hupen. Eine Riesen-Berufsverkehrs-Schlange hat sich gebildet vor dem – Nichts.

Dem Nichts? Vor der Lücke, in der die Taube liegt: Aber wenn sie schon respektvoll halten, warum hupen sie dann? Nun ja, die einen halten und die anderen hupen, und außerdem steht da hinten, quasi am Bühnenrand, ein unscheinbarer Smart. Dessen Fahrerin hat wohl schnell begriffen. Es ist spannend wie im Film: Sie steigt aus und nähert sich der – ja – durchaus lebendig herumhumpelnden Taube, fängt sie mit geübtem Griff und nimmt sie behutsam mit.

Vielleicht arbeitet sie mit Tieren, vielleicht ist sie Ärztin. Jedenfalls ist sie wacher, empathischer und mutiger gewesen als wir alle. Ein junges Mädchen neben mir sagt: „Und das ganze Theater für eine Taube! Das hätte ich nicht gemacht.“ Ihre Freundin drauf: „Ich wohl.“ Sie lassen uns beschämt zurück.

Was hätten wir getan? Warum haben wir Fußgänger, so träge und so nah, nicht gesehen, dass das Tier noch lebt? Warum haben wir es nach Sekunden aufgegeben, nicht einmal von der Straße geholt?

Nein, mit Feierabend-Eile ist das nicht erklärt, der Bus kommt noch lange nicht. Eher mit einem gedankenlosen Sichabfinden mit dem vermeintlich Unabwendbaren.

Aber das war voreilig, es war eben nicht unabwendbar, der Ausgang völlig offen. Denn ja, die Dinge sind anders, als sie scheinen. Fast immer und fast überall.

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