großraumdisco: Die historische Alternative zum allgemeinen Durchschnittsrock
Sich mit Spaß der Vergangenheit stellen: Agitation Free präsentieren sich in Berlin mit geschichtssattem, aber schön gegenwärtigem Krautrock
Dass sich hinterher niemand beschweren kommt – bitte sehr – der Warnhinweis: Wer auf Alter allergisch reagiert, ist in den folgenden Zeilen nicht gut aufgehoben. Aber es ist halt auch so, dass andererseits, wie kürzlich zu lesen war, die schon etwas betagteren drei Herren Gregor Gysi, Bodo Ramelow und Dietmar Bartsch mit ihrer Kandidatur bei den Wahlen die Linke aus der Krise raushauen sollen. Für diese „Mission Silberlocke“ bringen die drei als politisches Kampfgewicht zusammen stolze 210 Jahre auf die Waage. Wieso also sollten nicht auch Agitation Free mit ihrer weit ausschweifenden und geschichtssatten Instrumentalmusik in der Berliner Musikbrauerei die Rockmusik retten, wenigstens für diese Nacht?
Zuerst einmal musste man aber durch die Kellerräume und dann wieder hoch rauf durch eine enge Wendeltreppe in den Konzertsaal in dieser ehemaligen Brauerei, die in ihrem ramponierten und von der Zeit zerschliffenen Gemäuer einen morbiden Charme hat. Für Teile des Publikums war diese Treppe bereits eine abenteuerliche Herausforderung. Proppenvoll war es dann im Saal. Vorn waren ein paar Stuhlreihen aufgestellt (Geschichte will auch mal ausgesessen sein), hinten und um den Tresen wurde gestanden. Hier wie da sah man in der allergrößten Mehrzahl graues und weißes Haar, das gleich zeigte, dass man hier die Berliner Band durchaus bereits von früher her kennt.
Früher aber, Anfang der Siebzigerjahre, da saß man in Westdeutschland bei solchen Konzerten nicht auf Stühlen. Da kauerte man in seinen Batik-Shirts und den Schlaghosen auf dem Boden und wartete geduldig, bis die auf der Bühne bei ihren lang ausgespielten Improvisationen, den experimentellen Erkundungsflügen und psychedelischen Glasperlenspielen auch mal auf Gold stießen. Krautrock wurde herablassend dieses Tun genannt, das sich in der Tat anders anhörte und vielleicht wirrer als der angloamerikanische Durchschnittsrock jener Zeit. Man hockte also. Man wartete. Immer aber stand vorn an der Bühne eine Frau mit weitem Rock und bunten Tüchern, die sich bereits ausdrucksvoll wiegte in dieser Musik, die nun doch langsam auf einen ekstatischen Höhepunkt hinarbeitete. Wenn dann der Gitarrist seine langen Haare dazu schüttelte, sah das natürlich toll aus und so mitreißend, dass man sich endlich aufraffte und vom Boden hoch auch auf die Füße kam.
Der Gitarrist war immer ein Mann. Auch im westdeutschen Durchschnittskrautrock waren Frauen kaum zu finden.
Lutz „Lüül“ Ulbrich, Jahrgang 1952, trägt seine Haare heute mittellang. Er schüttelte sie auch nur sachte an diesem Abend in der Musikbrauerei. Und er kennt die Konjunkturen des Krautrockbegriffs. Mit seiner Band Agitation Free zählte er zur ersten Generation, alle paar Jahrzehnte reformierte sich die Band wieder oder brachte ein neues Album heraus, zuletzt vergangenes Jahr mit „Momentum“, das prinzipiell aber gar nicht so anders klingt als das erste Album der Band, „Malesch“ von 1972. Zwischendurch ist der Krautrock mal vergessen gewesen, heute gilt es als Qualitätsbegriff und hip.
Agitation Free
ist immer wieder mal live zu sehen. Von Konzert zu Konzert der Krautrocker kann es aber dauern. Als nächster Termin ist auf deren Homepage so der 6. September 2025 notiert: Da soll es zu den 2DaysProg Plus 1 ins italienische Veruno gehen.
In Tokio stand in einem Wachsfigurenmuseum mal Lüüls wächsernes Ebenbild, aber allzu viel einbilden sollte man sich davon in Deutschland nicht, da werden draußen auf der Straße die Leute auf die Frage nach Agitation Free bestenfalls mit den Achseln zucken. Spezialwissen für Musiknerds und die paar Altgedienten, die sich drinnen in der Musikbrauerei sammelten. Vorn an der Bühne stand auch wieder diese eine Frau, kein weiter Rock, keine bunten Tücher und nicht so frei ausschweifend … aber sie tanzte zu der zärtlichen, einen sanft umfassenden Musik der Band. Ruhig pulsierte sie durch Raum und Zeit, waberte ätherisch und fand sich immer wieder in einer kleinen verschmitzten Melodie.
Selbstverständlich wurde die Rockmusik gerettet. In dieser Nacht. In diesem Moment. Weil man sich gleich viel gegenwärtiger fühlen durfte in der Musik. Agitiert. Es war ja nicht nur die Frau, es wurden immer mehr, die sich wiegten in der Musik. Wiegen aber ist tanzen. Und wer tanzt, der lebt.
Thomas Mauch
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