frisches flimmern : Von Gefangenen und Ausbrechern
Was tun, wenn das Leben aus den Fugen gerät? Zwei ungemütliche Filme handeln vom Gefangensein in der eigenen Welt und erzählen mutig von den Ausbruchsversuchen der Protagonisten.
Endsieger I
„I feel you“ von Depeche Mode dröhnt aus den Lautsprechern. Von Alkohol und Drogen halb betäubt gibt Cahit (Birol Ünel) Gas. Mit ungeheurer Wucht prallt sein Granada gegen die Betonwand. Er überlebt. Sein beschissenes Leben geht weiter. In der geschlossenen Abteilung einer Klinik trifft er auf die Deutsch-Türkin Sibel (Sibel Kekilli). Sie hat auch einen Selbstmordversuch unternommen, um sich aus den Zwängen ihrer Familie zu befreien. Cahit, ebenfalls türkischstämmiger Deutscher, soll sie zum Schein heiraten, damit sie den türkischen Traditionen entfliehen kann. Die halb so alte Sibel ist lebenshungrig und will ein freies Leben führen. Zögernd willigt der Alkoholiker ein. Sie teilen sich die abgewrackte Bleibe Cahits. Viel näher kommen sie sich nicht. Bis Cahit sich in die lebenslustige Zwanzigjährige verliebt und sein Leben wieder einen Sinn bekommt. Doch dann erschlägt er im Affekt einen ihrer Liebhaber. Cahit wird verhaftet und Sibel flieht vor ihrer Familie nach Istanbul. Als er nach Jahren aus dem Gefängnis entlassen wird, will er seine große Liebe noch einmal sehen. Noch immer hofft er an eine gemeinsame Zukunft. In einem Hotelzimmer treffen sie sich wieder. Sibel hat mittlerweile ein neues Leben begonnen. Sie muss sich entscheiden.
Der Film „Gegen die Wand“ des deutsch-türkischen Regisseurs Fatih Akin erzählt die tragische Liebesgeschichte eines ungleichen Paares. Nach seinem kommerziellen Erfolgsprodukt „Solino“ besinnt sich Akin auf seine Stärken als Autorenfilmer. Mit energiegeladenen Bildern und mitreißend spielenden Darstellern erzählt er von der Verlorenheit einer Migranten-Generation, die immer noch zwischen den Welten steht. Seine zielstrebige, direkte Art Filme zu machen erinnert dabei an Fassbinder. „Ich glaube, es ist gefährlich, nach so einem Film zu versuchen, sich selbst zu überbieten. Aber ich darf und kann mich nicht auf den Lorbeeren ausruhen, das wäre fatal“, sagt Fatih Akin. Die Tragikkomödie ist der erste Teil einer Trilogie mit dem Titel „Liebe, Tod und Teufel“ und gewann auf der diesjährigen Berlinale den Goldenen Bären.
Endsieger II
Schon an seinem ersten Arbeitstag wird Fabrikarbeiter Igarashi (Susumu Terajima) durch die Firmenschließung arbeitslos. Ziellos und schweigend trottet er davon. Sein Weg führt ihn durch die verfallenen Gegenden von Tokio. Dabei widerfahren ihm die seltsamsten Dinge. Der Zufall führt Regie: Er hört einem schwermütigen Yakuza zu, der sich dann umbringt, trifft im Gefängnis einen echten Mörder, schlägt dessen untreuen Frau einen Blumentopf über den Kopf, wird von einem Auto angefahren, begegnet im Krankenhaus einem Geist, rettet ein Baby aus einem brennenden Haus, gewinnt den Hauptpreis in einer Lotterie, lässt sich das gewonnene Geld wieder abluchsen, strandet schließlich in einer Erdgrube und erblickt die Sterne. Am Ende kehrt er heim. Jetzt erst beginnt er zu sprechen. Seine Frau glaubt ihm kein Wort.
Der japanische Regisseur Hiroyuki Tanaka, bekannt unter dem Pseudonym Sabu, ist einer der außergewöhnlichsten Filmemacher des japanischen Kinos der Gegenwart. In seinem neuen, melancholischen Werk „Blessing Bell“ entwirft er quasi ein Gesamtbild des Lebens. In ruhigen und oft statischen Einstellungen zeigt er seinen Helden, der sich wie ein Gefangener durch eine Welt der Unwahrscheinlichkeiten bewegt, gelenkt vom Zufall. Er läuft, um alles hinter sich zu lassen und steht doch am Ende wieder am Anfang. Die Begegnungen stehen dabei für Einsichten über Leben und Tod, Glück und Unglück.
STEFAN ORTMANN