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„...ein Aufstand von Spießertum...“

■ In seiner Rede vor dem Parteivorstand der SPD begründete Willy Brandt seinen Rücktritt und sparte dabei nicht an Kritik der Genossen von rechts wie von links / Wir dokumentieren diese Rede in ihren wichtigsten Auszügen

Der groteske Verlauf der Diskussion um eine Sprecherin ist nur ein Symptom, aber doch ein wichtiges: - für Disziplinlosigkeit auch verantwortlicher und erfahrener Mitglieder unserer Partei; - für Rücksichtslosigkeit gegenüber denen, die in Wahlkämpfen stehen; - für das Zusammenspiel einzelner mit mehr oder weniger gegnerischen Organen der veröffentlichten Meinung; - auch für den Versuch, auf verdeckte Art alte Rechnungen zu begleichen. Was Führungskrise genannt wird, ist für einige, die dies nicht wahrhaben wollen, der zielstrebige Versuch, die programmatische und personelle Erneuerung der Partei als Marotte des Vorsitzenden abzuhandeln. Ich stehe für diese Abart von Auseinandersetzungen nicht mehr zur Verfügung. Und ich bin sicher, daß die große Mehrheit der Partei es ebenfalls satt hat, wie mit Parteitagsbeschlüssen umgegangen wird und Gesetze der innerparteilichen Demokratie verletzt werden. Unter den obwaltenden Umständen halte ich es nicht für möglich, meinen Pflichten als Vorsitzender bis zum nächsten ordentlichen Parteitag gerecht werden zu können. Deshalb bitte ich, folgenden Vorschlägen zuzustimmen: Erstens: Der Parteivorstand beschließt gemäß Paragraph 21 des Organisationsstatuts die Einberufung eines außerordentlichen Parteitages noch vor der Sommerpause. Tagesordnung: Wahl des Vorsitzenden, gegebenenfalls auch eines Stellvertreters; des Schatzmeisters (um die kommissarische Bestellung zu bestätigen) - es sei denn, der Vorstand halte es für geboten, sich im ganzen neu zur Wahl zu stellen. (Ich halte dies nicht für ratsam.) Zweitens: Der Vorstand beauftragt die Organisationskommission, für den nächsten ordentlichen Parteitag einen Vorschlag für eine Satzungsänderung mit dem Ziel zu überprüfen, daß auch bei der Wahl der Vorsitzenden eine möglichst gleichgewichtige Vertretung von Frauen und Männern erreicht wird. Drittens: Der Vorstand beauftragt die Organisationskommission, zu prüfen, ob eine Satzungsänderung zu empfehlen ist, durch die die Wahl des Bundesgeschäftsführers (beziehungsweise Gene ralsekretärs) durch den Parteitag vorgeschrieben wird. (...) Zur Begründung: Mit diesen Vorschlägen ließe sich erreichen, daß die laufenden und bestehenden Wahlkämpfe von verwirrenden bis bösartigen Diskussionen entlastet werden. Die Vermutung spricht außerdem dafür, daß ein Vorsitzender seine Kraft vergeudet, wenn er zum Beispiel um einen Pressesprecher kämpfen muß, den er für geeignet hält und der - wie bisher üblich - nach Vorklärung durch den Bundesgeschäftsführer vorgeschlagen wird. Leider habe ich festzustellen, daß einige, die sich für „rechts“ und jedenfalls wichtig halten, Kursänderungen erzwingen wollen, obwohl sie dafür keine Mehrheit haben. In jenen Zirkeln - aber auch bei manchen, die sich für besonders „links“ halten - werden Sonderinteressen höher bewertet als solche der Gesamtpartei. Manche trampeln auf dem Öffentlichkeitsbild der Sozialdemokratie herum, um anschließend laut zu beklagen, daß es der Partei nicht besser geht. Helmut Schmidt hat jetzt auch öffentlich gefordert, die politische Führung der Partei dem Parteivorstand zu entziehen. Das gehört zum Versuch eines Kurswechsels auf kaltem Wege. Davor kann ich nur warnen. Die innerparteiliche Demokratie und Meinungsfächerung darf nicht überspielt werden, sondern sie muß sich, bei Respektierung von Beschlüssen, entfalten können. Partei und Fraktion sind zwei sich ergänzende Organisationen; den ersten durch den zweiten zu vereinnahmen, muß schiefgehen. Seit der letzten Bundestagswahl, auch schon davor, bin ich zur Zielscheibe solcher geworden, die wohl mit ihren Angriffen von eigenen falschen Einschätzungen und Ratschlägen ablenken wollten. Auch ich habe sicher die eine oder andere unzweckmäßige Äußerung zu verantworten. Wer jedoch gemeint haben sollte, mich in die Rolle des Sündenbocks drängen zu können, hat sich geirrt. In Berlin, dann von 1961 bis 1972 auf Bundesebene, habe ich gemeinsam mit anderen gezeigt, daß und wie man Wahlen gewinnen kann. Legendenbildungen werde ich nicht unwidersprochen lassen. Auch nicht irreführende bis verleumderische Behauptungen, durch die mir die Alleinverantwortung dafür angelastet werden soll, daß wir am 25. Januar nicht besser abgeschnitten haben. Auch zwischen Johannes Rau und mir ist insoweit kein Keil zu treiben. Man wußte, daß ich - bekannt gegeben vor dem Nürnberger Parteitag, nicht auf diesem, wie von einer Seite verbreitet wird, die Geld genug hätte, mindestens Daten korrekt zu recherchieren - auf dem Parteitag 88 nicht erneut kandidieren würde. (...) Aus dem, was ich hier darlege, ergibt sich für mich logischerweise, daß ich mich - über den vorliegenden ersten Entwurf hinaus - nicht für die neue Programmkommission in Anspruch nehmen lassen kann. Ich bitte den Parteivorstand, hiervon Kenntnis zu nehmen. (...) Bei der Diskussion um die in Aussicht genommene neue Sprecherin hat mich besonders gestört, was ich als einen Aufstand von Spießertum empfunden habe. Es zeigt sich jedenfalls, daß Teile der öffentlichen Meinung und der eigenen Partei in Haltungen zurückfallen, die ich für überwunden hielt. Um so dankbarer bin ich denen, die begriffen haben, worauf es mir ankam. Kein Zweifel, daß der in den letzten zwei Wochen angerichtete Schaden behoben werden kann. Ich will dazu meinen Beitrag leisten. Viele andere möchte ich ermutigen, reaktionären Versuchungen nicht nachzugeben. Selbstverständlich kann man über personelle Vorschläge fast immer unterschiedlicher Meinung sein. Mir tut leid, nicht deutlich genug gemacht zu haben, daß und weshalb mir daran lag, ein Zeichen von Liberalität zu setzen; auch ein Zeichen der weiteren generationsmäßigen Erneuerung; auch ein Zeichen des Ringens um „parteilose Sozialdemokraten“, von denen ich in erheblichem Maße verstanden worden bin und die im übrigen nicht allein in einem rot–grün genannten Bereich zu finden sind. Mir ist verständlich, wenn die Frage aufgeworfen wird, wann wer für die Partei tätig ist, ihr auch als Mitglied beizutreten hat. Das ist bei uns in den zurückliegenden Jahren in bezug auf die schreibende Zunft flexibler als in anderern Bereichen gehandhabt worden. So auch, als sich der Bundesgeschäftsführer diesmal auf die Suche nach einer geeigneten Journalistin machte. Zu einem Problem wurde das offensichtlich erst, als ich ihm eine junge Frau genannt hatte, die noch nicht deutsche Staatsangehörige ist, auch noch nicht verheiratet, sondern „nur“ aus einer Familie mir befreundeter griechischer Antifaschisten. Ich kann im übrigen keinen Nachteil darin erkennen, wenn jemand für eine in Frage stehende Aufgabe eine gute Ausbildung, glänzende Examen, umfassende Sprachkenntnisse mitbringt und sogar gezeigt hat, daß sie sich mit Erfolg in einem modernen Wirtschaftsunternehmen zurechtfindet. Manchen war das wohl zuviel, jedenfalls haben Leute in nicht geringer Zahl schreckliche Briefe geschrieben oder sich sonst auf rülpsende Weise vernehmen lassen; doch es hat auch viele gute Briefe gegeben, kritische und zustimmende; die zustimmenden nicht nur von Ausländern. (...) Meine personelle Anregung, über die am 16. März im Präsidium beraten wurde, hatte ich den stellvertretenden Parteivorsitzenden und Oskar Lafontaine am 13. Februar (das Datum ist mir wichtig) genannt. Das ließ sich annehmen oder ablehnen, aber ich bedaure nicht nur, sondern schäme mich, wie darauf reagiert worden ist. Wir waren schon mal weiter. Ich appelliere an den Vorstand und an die Partei im ganzen, sich mit geistiger Enge und Anspruchslosigkeit nicht abzufinden. Solche Art von Populismus verstehen andere besser, wir lassen besser die Finger davon. Damit es keine Unklarheiten gibt: Ich verlasse die Brücke, aber ich gehe nicht von Bord. Mit der mir zugewachsenen Erfahrung und in der Offenheit, die mir bald zur Verfügung stehen wird, möchte ich der deutschen und europäischen Sozialdemokratie weiterhin helfen, so gut ich es vermag. Auf inhaltliche Fragen darf ich also bei anderer Gelegenheit zurückkommen.

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