Flucht durch die Hintertür
: KOMMENTAR VON BETTINA GAUS

Wie oft darf man eine Rede interpretieren, die man selbst gehalten hat? Der baden-württembergische Ministerpräsident Günther Oettinger scheint der Ansicht zu sein, das könne man täglich neu versuchen. Gestern hat er sich endlich von seiner Äußerung distanziert, sein verstorbener Vorgänger Hans Filbinger sei ein Gegner des Nationalsozialismus gewesen. Ist das jetzt die letzte Fassung? Oder wird er sich von seiner Distanzierung heute wieder ein bisschen distanzieren? Abwarten.

Es steht zu befürchten, dass die jüngste Erklärung von Oettinger bald irgendwo als „Klarstellung“ bezeichnet werden wird. Davon kann keine Rede sein. Er musste nichts klarstellen – seine Traueransprache für den ehemaligen NS-Marinerichter Filbinger war klar und verständlich. Deswegen ist er auch nicht, wie er in ersten Stellungnahmen bedauerte, „missverstanden“ worden. Er wurde im Gegenteil ganz richtig verstanden. Und deswegen ist auch seine sogenannte Entschuldigung bei den Opfern des Nationalsozialismus und deren Angehörigen wertlos. Wer lange auf seinem Standpunkt beharrt und sich dann nur entschuldigt, weil er andernfalls fürchten muss, sein Amt zu verlieren, hat keinen Anspruch darauf, dass ihm verziehen wird.

Günther Oettinger hat sich in den letzten Tagen mehrfach auf eine Art und Weise zu Wort gemeldet, die unverzeihlich ist. Die Distanzierung von sich selbst, zu der er sich gestern entschloss, ändert daran nichts mehr. Sie kam zu spät und ist unglaubwürdig. Die Forderung nach dem Rücktritt des Ministerpräsidenten bleibt deshalb weiter richtig.

Ausdrücklich erhoben hat sie allerdings fast nur der Zentralrat der Juden. Die meisten anderen Kritiker ließen Oettinger noch ein Hintertürchen offen – genau jenes Türchen, durch das er nun geschlüpft ist. Das ist traurig. Es wäre ein Zeichen von Selbstachtung, wenn die politischen Führungsspitzen dieses Landes unabhängig von ihrer Parteizugehörigkeit deutlich machten, dass sie diesen Ministerpräsidenten nicht mehr als Kollegen in ihren Reihen wünschen. Zu erwarten ist das allerdings nicht. Auch deshalb, weil die Erfahrung lehrt, dass die Öffentlichkeit solcher Diskussionen schnell überdrüssig wird. Neuer Tag, neues Thema.