die wahrheit: Der erste Satz
Kreativ-Writing-Sommerkurs der Wahrheit. Heute: Der Roman, Folge 1.
Zu Beginn möchte ich speziell auf eine Falle aufmerksam machen, in die beinahe jeder Anfänger tappt. Vom Museenkuss beseelt sitzt der Debütant vor seinem Laptop und sondiert den gewählten Stoffberg. Ohne Seil, in Turnschuhen, und nur unzureichend versorgt mit Nikotin, Kaffee und anderem notwendigem geistigen Marschgepäck. Nach kurzer Zeit türmt sich ein Furcht erregender Motivgletscher auf, gespickt mit Spalten, Mulden und Rissen; unauslotbare Schründe gähnen neben schorfigen Rinnen, unter fadenscheinigen Tritten klaffen heimtückische schwarze Löcher, boden- und hoffnungslos wie das Arschloch Beelzebubs am jüngsten Tag. Wie leicht fällt ein unerfahrener Erzähler da hinein, friert fest, weiß bald nicht mehr vor und zurück, und der Roman ist aus, ehe er richtig begonnen hat.
Etwa im folgenden phänotypischen Szenario: Der Romanheld, meist eine etwas verwirrte Gestalt an der Grenze zur Mannbarkeit, betritt eine Schenke, um mit einer einfachen Currywurst den kleinen Hunger zwischendurch zu stillen. Da muss nicht gleich der Lebenslauf des Wirtes referiert werden, nur weil unser Autor beschlossen hat, die alkoholbedingte Schlagseite seiner Hauptperson, nennen wir sie Volkmar, durch ein kleines Malheur anzudeuten. Er lässt also Volkmar, dessen Brille infolge der kalten Winternacht gänzlich beschlagen ist, beim Hereintreten über den Hund des Wirtes stolpern. Doch anstatt nun zügig eine Currywurst zu imaginieren und Volkmar aus dem Lokal zu schaffen, strauchelt auch der Autor. Und zwar ebenfalls über jenen alten und wie Volkmar mit Halbblindheit geschlagenen Köter, welcher stets quer im Schankraum liegt, tags zuvor jedoch in einer Aufwallung jugendlichen Elans der Volkmar nun einladend aufdringlich zuwartenden Aushilfskellnerin Dörte in die Wade gebissen hat, just als sich das vollbusige (und beim Abschmecken dieses Adjektivs packt unseren Autor endgültig der Furor), just als sich das vollbusige Frauenzimmer also dem durch einige Totowetten zu Reichtum gekommenen, ansonsten aber recht unattraktiven, um nicht zu sagen abgrundtief hässlichen und charakterlich recht zweifelhaften Kneipier Schmitz in ziemlich eindeutiger Weise zu nähern begann, ganz richtig vermutend, dass die schwarze Seele des sabbernden Greises mehr noch als von Geiz und Bitternis von seniler erotischer Gier zerfressen wird und Dörte ihrerseits, so dachte das dumme Ding, am großen Kuchen ein wenig partizipieren könne, wenn sie ihm da ein wenig entgegenkäme, obwohl selbst so ein loses Geschöpf wie Dörte dabei ihre Ekel- und Übelkeitsschwelle meterweit hätte überschreiten müssen, wozu es letztlich aber doch nicht gekommen ist, weil eben der halbblinde Köter in einem Anfall jugendlichen Elans die feste rosige Wade der Aushilfskellnerin mit einem Eisbein verwechselte, einer Speise, die das Tier in guten Zeiten schon mal in den Napf geworfen bekam, damals, als die Schenke noch florierte, Wirt Schmitz ein hoffnungsfroher Zapfer und frisch verheiratet war mit Gerda Z., die nun aber, so hat es unser inzwischen völlig derangierter Autor beschlossen, tatsächlich und für den Leser gänzlich überraschend im Leben des Romanhelden Volkmar eine kleine, doch nicht gänzlich unbedeutende Rolle spielen wird, da Gerda Z. eine Zeit lang im Hause des Fabrikanten Odenloh als Putzfrau tätig war und im Zuge der Säuberungen auch mit Tochter Wibke Odenloh Kontakt hatte, ja, nicht nur einfach hatte, sondern pflegte, und zwar dergestalt, dass die lebenskluge Gerda für das elterlicherseits arg vernachlässigte Einzelkind (Vater Odenloh war mit der Firma verheiratet, die Mutter neigte zu Brahms und Ginverschnitt) alsbald zur mütterlichen Freundin wurde und Wibke in dieser Funktion dringend abriet, mit dem labilen Volkmar, welcher Wiebke gebeutelt vom ersten keimenden Triebschub täglich schmachtende, von rilkeschen Lesefrüchten schier ertränkte Liebesbriefe zukommen ließ, mit diesem, wie sich Gerda Z. anspielend auf das überdimensionierte und ewig nässende Riechorgan Volkmars ausdrückte, "reimenden Nasenbär", mit Volkmar also, solle das Fräulein bloß nichts anfangen, egal mit welchen wirren Gaukeleien der blässliche Jüngling ihr auch immer die Zukunft ausmalen werde, was wiederum Wiebke veranlasste, sich der Sportskanone Diethelm zuzuwenden, und damit Volkmar in jene Lebenskrise zu treiben, die unser Romancier gerade in groben Zügen am Computer entwirft.
Um ohne Umschweife medias in res zu gehen: das ist alles viel zu kompliziert. Das ist Stoff für den gereiften Romancier, ein Thomas Mann hätte das sicher gern geschrieben, wenn er nicht so früh von uns gegangen wäre. Also, liebe Freunde, merken Sie sich eins: der moderne Roman braucht keine Geschichte, sondern einen guten Einstiegssatz. Denn ein fulminanter, den Leser bei den Hörnern packender Beginn ist schon die halbe Miete. Nun werden Sie wissen wollen, wie finde ich so einen fulminanten Anfangssatz? Das erörtern wir in der nächsten Folge.
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