die wahrheit: Der kleine Sot (Teil 1)
Jedes irische Kind kennt die Sage vom kleinen Sot und von seinem grauenhaften Schicksal: Eines Tages befuhr Sir Reginald du Lac, der sich selbst ...
Jedes irische Kind kennt die Sage vom kleinen Sot und von seinem grauenhaften Schicksal: Eines Tages befuhr Sir Reginald du Lac, der sich selbst Captain Rouge nannte, weil er es liebte, wenn das Wasser um sein Schiff herum vom Blut der Feinde rot gefärbt war … - eben jener Captain Rouge also befuhr mit einem Beiboot seiner Galeone "Annabelle" einen großen Fluss und entdeckte am Ufer einen höchstens acht, neun Jahre alten Jungen, der angelte. Captain Rouge ließ das flüchtende Kind von seinen Männern einfangen. Als ihm der rundliche Junge, der sich heftig gegen die brutalen Seeleute wehrte, vorgeführt wurde, fiel dem Freibeuter vor Lachen über das strampelnde Männlein der Dreispitz mit der Fasanenfeder vom Kopf. Vor Schreck erstarrte der kleine Sot, denn Captain Rouge hatte kaum mehr Haare auf seinem Rundschädel, aber dafür eine riesige Narbe von einem Ohr zum anderen. Captain Rouge strich sich über die narbige Kugel und erklärte dem kleinen Sot, dass er, Sot, künftig sein Smutje und Diener sein würde. Dann schlug er dem Jungen mit einem Holzprügel so hart auf den Kopf, dass der bewusstlos wurde und erst auf hoher See wieder erwachte. Die "Annabelle" war da längst unterwegs nach Westindien, und der kleine Sot sollte seine Familie und seine Heimat niemals wiedersehen.
Nach und nach erfuhr der kleine Sot von Captain Rouge, den er jeden Morgen, Mittag und Abend bedienen musste, was der alte Freibeuter mit seiner jungen Beute vorhatte. Wenn die See ruhig war und der Rum die Kehle schon literweise hinabgeflossen war, dann rief der rote Captain den kleinen Sot in seine Kapitänskajüte und erteilte ihm "Privatunterricht", wie er es nannte. Zunächst zog er ihm den Ledergürtel über, an dem sein kerbiger Silberdegen hing, bevor er vor den wissbegierigen Augen Sots die Karten aller Meere aufrollte. Beim Barte des Dreizacks, so grummelte Captain Rouge dann, er werde ihm die sieben Weltmeere zeigen, aber der kleine Sot müsste auch sieben Prüfungen ablegen. Denn sein Schüler hätte wie er selbst eine beachtliche Aufgabe zu erledigen.
Und so kam es, dass der kleine Sot größer und größer wurde, Tag für Tag Berge von Kartoffeln für die Besatzung und den Captain schälte, die Stürme des Atlantiks und die Untiefen des Pazifiks kennenlernte. Auf jedem Kontinent aber musste er im Laufe der Jahre eine neue Prüfung ablegen: Er musste nachts mitten in einer Herde Robben schlafen; er musste dem Gesang einer russischen Gräfin zuhören; er musste eine Höhle voller Kobras durchqueren; er musste einer indianischen Jungfrau mit einem Kartoffelmesser den Blinddarm entfernen; er musste nackt den Todesberg von Irinsta Pergu erklimmen; er musste ein Mückenbier trinken; er musste den Maat vor Kap Hoorn kielholen. Die siebte und schwerste Prüfung aber hatte sich Captain Rouge für die grausamste Wüste Arabiens aufgespart. An einem Strick führte der schreckliche Captain den mittlerweile rundum stattlichen Sot durch die gefürchtete Ramlat al-Wahiba. Eine sonnendurchtränkte Höllenwüste, die bereits bei Sindbad dem Seefahrer erwähnt wird, aber erst im Jahr 1691 von dem deutschen Orientforscher Marc van Einhellig erstmals durchquert wurde.
Fortsetzung nächste Woche
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