die wahrheit: Hitlers Innereien
Ich bin nur ein einfacher Elektrotechniker, habe aber trotzdem ein schweres Schicksal. Seit nunmehr siebzehn Jahren bin ich arbeitslos, und schuld daran ist...
Ich bin nur ein einfacher Elektrotechniker, habe aber trotzdem ein schweres Schicksal. Seit nunmehr siebzehn Jahren bin ich arbeitslos, und schuld daran ist eine amerikanische oder osteuropäische Punk-Band. Die Sängerin war ziemlich korpulent und hatte einen stattlichen schwarzen Vollbart - ein krasser Fall von Hirsutismus, wie man in Russland wohl viele sehen soll.
Den Namen der Sängerin habe ich ebenso vergessen wie den der Band, vielleicht habe ich aber weder den einen noch den andern je gewusst. Auch über die musikalischen Qualitäten der Dame und ihrer Begleiter vermag ich nichts zu sagen; ich glaube, ich habe sie nie in Aktion erlebt.
Damals wurde ich, weil ich an jenem Abend Notdienst hatte, vor einem ihrer Auftritte in ein obskures Lokal bestellt, um den Verstärker des Gitarristen zu reparieren. Keiner in der Band konnte so etwas, mehr noch, es schienen sogar alle eine abergläubische Furcht vor Elektrizität zu haben. Trotzdem hielt der Strom sie nicht im Geringsten davon ab, alles kaputtzumachen. Nun standen sie mit eingezogenen Köpfen herum, guckten dumm und flennten, weil kein Ton mehr herauskam.
Der Gitarrist wiederholte die immer gleichen tränenerstickten Worte, die ich nicht verstand, aber als flehentliche Bitte um Reparatur interpretierte. Zuerst bedeutete ich ihm und den anderen mit Hilfe von Gesten, sie mögen sich beruhigen und abwarten, dann sah ich mir das defekte Gerät an, einen ganz kleinen, dunkelgrauen Verstärker mit eingebautem Lautsprecher, alles in allem etwa 50 Zentimeter hoch und 40 Zentimeter breit. Vermutlich handelte es sich um ein kasachisches oder mongolisches Modell. Ein Hinweis auf den Hersteller fehlte, doch oberhalb der Stoffbespannung des Lautsprechergehäuses hatte jemand mit Kreide "HITLER" auf die Vorderfront geschrieben.
Zum Glück bestand der Schaden nur in einem leicht zu behebenden Wackelkontakt. Vielleicht war auch die Sicherung defekt, meine Erinnerung ist in diesem Punkt nicht hundertprozentig. Ich musste mich jedenfalls nicht ausführlicher mit den Eingeweiden des Apparates befassen. Trotzdem geschah etwas Folgenschweres. Als ich nämlich flüchtig hinter die großen Röhren schaute, entdeckte ich im Innersten anstelle des Trafos etwas wie rohes Fleisch, glatt, rund und rot geädert. Der Anblick ließ mir das Blut gefrieren, doch ich tat, als ob ich nichts bemerkt hätte, und schraubte, indem ich das Zittern meiner Hände notdürftig zu unterdrücken versuchte, den Kasten eilig wieder zu.
"Böser Klang", krächzte die bärtige Sängerin, die zu meiner Überraschung nun doch etwas Deutsch konnte, "sehr, sehr schädlich, zerstört Würfel im Innenohr. Irreparabel."
Das erschien mir gar nicht so abwegig, daher wollte ich auf keinen Fall warten, bis das schreckliche Gerät in Betrieb genommen wurde. Zudem ängstigte mich der Gedanke, ich könne zu viel gesehen und somit mein Leben verwirkt haben. Deshalb rannte ich einfach davon, ohne für die geleistete Kleinigkeit einen Lohn zu verlangen. Seither bin ich auf der Flucht, unfähig, meinen alten Beruf auszuüben, getrieben von einer abergläubischen Furcht vor Verstärkern, Radios et cetera. Und vor Frauen mit schwarzen Vollbärten.
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