die wahrheit: Die Zeitschaufensterredner
Bei Komposita - also zusammengesetzten Wörtern - geht es notorisch drunter und drüber, vor allem im Deutschen, in dem - grammatikalisch korrekt - ziemlich alles ...
Bei Komposita - also zusammengesetzten Wörtern - geht es notorisch drunter und drüber, vor allem im Deutschen, in dem - grammatikalisch korrekt - ziemlich alles mit fast allem so verleimt wird wie in keiner anderen europäischen Sprache. Den simplen "Atomwaffensperrvertrag" verwandelt das Englische in eine Genitiv-Salve: "Treaty on the Non-Poliferation of Nuclear Weapons", was jedes Kind versteht. Das Englische und der Genitiv müssen jedoch kapitulieren, wenn starkdeutsch-kompositorisch nachgeladen wird. Zum Beispiel mit der "Atomwaffenvertragausstiegsmöglichkeitendebatte". Zugegeben, bei diesem sechsfach gesprungenen Kompositum-Rittberger hat man es mit einer satirischen Übertreibung zu tun, aber solche Erweiterungen sind denkbar und grammatikalisch korrekt möglich.
Die Teufelei beginnt aber vor der Satire. Zum Beispiel beim "Zeitfenster". Übersetzung aussichtslos. Ein Fenster kann man auf zweierlei Weise öffnen. Von außen mit einem Hammer oder einem Stein. Das gilt dann gemeinhin als Einbruch oder Sachbeschädigung, und der Täter sieht von außen nach innen, was er sich holen möchte - den Flachbildschirm, den Gran Duque dAlba Solera Gran Reserva oder einen echten Horst Janssen - je nach Geschmack und Niveau.
Zeit kann man nicht sehen, nicht einmal durch ein Fenster. Was man da sieht, ist dem puren zeitlichen Zufall und der örtlichen Situation geschuldet: spielende Kinder, parkende Autos oder Karnevalsumzüge, kurz: das chaotische Allerlei des Draußen, aber nicht den unerbittlichen Zeitfluss, dessen minimale Einheiten immer schon vorbei sind, wenn man sie auch nur denkt oder fühlt.
Mit dem Kompositum "Zeitfenster" ist also gar nichts Rechtes anzufangen. Und das ist wohl der Hauptgrund dafür, dass heute alle vom "Zeitfenster" reden - von der Kanzlerin über Thorsten Schäfer-Gümbel bis zu Matthias Horx, von den Talk-Athleten und den Wirtschaftsweisen bis zu den Börsengurus. Da hagelt es nur so von "kurzen", "günstigen", "neuronalen", "geringen", "winzigen" und "schmalen" Zeitfenstern. Ob die Zeitfensterputzer von außen reingucken oder von innen rausschauen, sie sehen nie Zeitliches, also Vergangenes oder Zukünftiges, sondern allenfalls irgendwie Zeitbedingtes, was man "Gegenwart" nennt.
Im starren Blick durchs "Zeitfenster" schaut man auf Zufälliges oder in ein schwarzes Loch. Die Blödrede vom "Zeitfenster" will aber gerade suggerieren, sie sehe gleichsam durchs Zeitfernrohr, was kommen wird. Derlei Anspruch ist ungefähr so plausibel wie der Rat von Bankern, das für den kapitalistischen Betrieb unverzichtbare Systemvertrauen dadurch herzustellen, dass man den Zeitgenossen unentwegt predigt, jetzt helfe nur noch das Vertrauen darauf, "dass das System tut, was es tut" (Niklas Luhmann).
Das Kompositum "Zeitfenster" ist für Politiker, Bürokraten und Manager besonders attraktiv. Dieses die Zukunft verwaltende Personal bemächtigt sich damit des Blicks nach vorn und will uns weismachen, was es sehe, sei "vernünftig", "normal" und "notwendig". Die "Zeitfenster"-Rhetorik ersetzt für das Publikum den älteren Hokuspokus mit Kartenleger- und Handlinienleserwahrheiten.
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