die wahrheit: Start mit vollem Schub
Ein Besuch auf dem Raketentextgelände im Deutschen Gesamtwerk.
Professor Albert Hoss, Jahrgang 1959, ist Leiter des Deutschen Gesamtwerks in Leipzig. Dort wird gerade ein neuer Raketentext vorbereitet. Die Wahrheit hat den weltberühmten Skriptologen aufgesucht und sich seine Grundlagenarbeit einmal erklären lassen.
taz: Professor Hoss, was wird hier gemacht?
Prof. Albert Hoss: Wir bereiten gerade einen Raketentext vor.
Also wird die letzte Textstufe gleich gezündet?
Nein, nein. Der ganze Text, also alle Textstufen werden bei einem Raketentext vom Stapel gelassen.
Von der Startrampe …
So könnte man etwas altertümlich sagen, ja.
Was aber genau ist ein Raketentext?
Nun, bei einem normalen Text, geht alles halb so schnell. Sagen wir mal, er dauert eine volle Stunde. Ein Raketentext dauert bei vollem Schub etwa eine halbe Stunde. Dabei gehen locker einmal zehn- bis zwanzigtausend Zeichen über den Bildschirm. Im Raketentextcomputer könnten wir somit 48 Texte täglich texten. Theoretisch, denn wir müssen auch Pause machen, sonst nimmt die Qualität ab.
Das heißt, Sie texten gar nicht auf der Startrampe?
Nein, nein, da machen Sie sich falsche Vorstellungen.
Und warum texten Sie nicht auf der Startrampe?
Das wäre viel zu aufwändig. Wir texten im Simulator, das genügt heutzutage allen Anforderungen. Der Simulatortext ist sogar viel zuverlässiger als der Rampentext. Die vielen Zuhörer an der Startrampe, die Nervosität aller Beteiligten, die Fehlstarts, die Pannen - ich bin froh, dass das heute alles nicht mehr sein muss, um ein verlässliches Textergebnis zu erzielen.
Vermissen Sie das nicht? Geht da nicht Authentizität verloren?
Nein, überhaupt nicht. Was meinen Sie mit Authentizität?
Na, sozusagen die Romantik! Ist es kein Unterschied, ob ich mit dem Rechner drinnen texte oder auf einer Bühne?
Sicher, da haben Sie recht, bei gewöhnlichen Texten. Aber bei einem Raketentext war von Romantik noch nie viel zu spüren. Überlegen Sie einmal: In einer halben Stunde ist da alles vorüber. Die Zuhörer können gar nicht so schnell folgen, da ist der Raketentext schon vorbei. Gewissermaßen gezielt am Zuhörer vorbeigeschossen. Für die paar Minuten die weite Anreise. Das Interesse an Raketentexts im Freien hat in den letzten Jahren bereits deutlich abgenommen.
Wozu überhaupt Raketentexts in Zeiten der Abrüstung und des mangelnden Interesses an Hochkultur?
Sie meinen: Muss man so hoch hinaus mit den Texten? Ich verstehe, dieser Einwand kommt oft. Doch die Menschheit wächst nur mit den Zielen. Nehmen Sie die Mondlandung - im Nachhinein weiß man, dass alles nur ein Propagandafeldzug war. Aber einige Auswirkungen für das Alltagsleben hat dieser immense Aufwand doch gehabt, etwa bei den Beschichtungen von Bratpfannen: Ohne die Teflonbeschichtungen wären seit 1969 etwa 100 Mrd. Gigatonnen Bratkartoffeln angebrannt und unbrauchbar geworden. Amerikaner und Europäer hätten auf Reis ausweichen müssen, der in der Dritten Welt gefehlt hätte …
Jetzt übertreiben Sie aber.
Zugegeben. Das ist aber bei Raketentexts eine gewöhnliche Erscheinung. Um auf Ihre Frage zurückzukommen - das Interesse an hochfliegenden Kulturerzeugnissen hat nicht ab-, sondern zugenommen! Denken Sie an den täglichen Textausstoß im Internet. Raketentexts machen den Löwenanteil davon aus. Die immense Zeitlücke, die sich in den Medien täglich auftut, durch endlose Konferenzen, Blattkritiken, Krankheitsausfälle, pipapo, muss irgendwie überbrückt werden. Das geht nicht ohne Raketentexts. Ohne sie würde eine ganze Industrie zusammenbrechen. Millionen von Arbeitsplätzen stehen auf dem Spiel. Daher laufen bei uns die Textsimulatoren rund um die Uhr. Nur von 15 Uhr bis 19 Uhr ist Kaffeepause.
Inwieweit garantiert ein Raketentext im Simulator ein durchschlagendes Ergebnis?
Nun, ein ballistischer Raketentext endete früher meist im Papierkorb. An einer konventionellen Schreibmaschine waren die Texts meist eine Katastrophe. Das Publikum dementsprechend sauer. Auch ein Grund übrigens, warum ich die Romantik dieser Sache nie eingesehen habe. Seit die Patronen und Kartuschen für Drucker beinahe so teuer geworden sind wie die Geräte selbst, ist es nicht mehr üblich, Ausdrucke zu machen. Am Schirm den Raketentext zu verfolgen spart den Auftraggebern, öffentlichen oder privaten, Zeit und Geld. Darüber hinaus wird der Raketentext über ein bis drei oder manchmal sogar vier Stationen durchs weltweite Netz geschickt. Die Trümmer nach einem solchen Versuch, der sich allein auf den Bildschirmen abgespielt hat, sind ungleich aufschlussreicher, als die zerknüllte ballistisch abgefeuerte Papierkugel von einst. Die war nur physisch deformiert. Heutige Raketentexts liefern aber produktive Deformationen.
Professor Hoss, wir danken Ihnen für das Gespräch.
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