die taz vor zehn jahren über den krieg in bosnien: :
Natürlich ist der bosnische Krieg eine furchtbare Selffulfilling Prophecy. Ein Argumentationsarsenal für Rechthaber: Wer schon immer Zweifel daran hatte, daß Sarajevo wirklich die zivile multireligiöse moderne Großstadt gewesen war, als die sie alle engagierten Freunde Bosniens kennengelernt hatten, der wird jetzt stolz die traurige Wirklichkeit registrieren, wohin sich die Politik in Sarajevo zu entwickeln droht. Es sieht nach einem Sieg des radikalen muslimischen Flügels der bosnischen Führung aus. Sarajevo, die westliche, multireligiöse Stadt, hat sich im Überlebenskampf verwandelt. Und ihre Menschen auch.
Niemand jedoch hat das Recht, jetzt mit dem Finger auf die Opfer zu zeigen: Ihr seid ja so geworden, wie Karadžić euch immer beschrieben hat. Es gibt Grund genug, jetzt, wo Opfer zu Tätern werden können, sehr präzise zu sein und nicht die Täter zu Opfern zu machen. Seht mal, heißt es jetzt, die Bosnier morden auch. Also erscheinen die Verbrechen von gestern in freundlicherem Licht. Mindert die Soldateska in der Krajina aber das Gedenken an die grausame Vertreibung der Kroaten vor vier Jahren? Verbietet der bosnische Vormarsch die Erleichterung über die nun freie Zufahrt in die Bihać-Enklave? Darf das Elend in der überfüllten Stadt Banja Luka vergessen machen, daß die schreckliche Wiedergeburt des Begriffes Völkermord in ebendieser Region stattfand – vor drei Jahren, mit den Massakern, den Konzentrationslagern und den Vertreibungen der Muslime und Kroaten aus Banja Luka. Die Vertreibungsverbrechen in Kroatien und Bosnien (und in Ruanda) zeigen: Wir müssen Abschied nehmen von den wohlfeilen Mustern der Vergangenheit.
Wir können nicht noch einmal fünfzig Jahre warten, bis wir Mord Mord und Terror Terror auch dann nennen, wenn es als Rachemord und Racheterror gedeutet wird. Die humanitäre Wachsamkeit muß sich diese Spiele von gestern verbieten.
FREIMUT DUVE, 20. 10. 1995