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Archiv-Artikel

die taz vor dreizehn jahren über deutschland bei nacht, armleuchter und kerzenhalter

Die Lichterdemos gegen Ausländerfeindlichkeit reißen nicht ab. Und was tut die kritische Linke? Ist sie halbwegs erleichtert, daß es doch noch ein demokratisches Aufbegehren gibt? Freut sie sich über die seit den Morden von Mölln umkippende Stimmung? Mitnichten. Voller Mißtrauen sticht sie ihre analytischen Nadeln ins verdächtige Objekt und entdeckt unterm Forscher-Mikroskop: religiöse Symbole, faschistoide Fackeln, den Wunsch nach Unschuld und – keine Reden. Freie Fahrt also für die Entschlüßler. Armleuchter gegen Kerzenhalter.

Deutsche bei Nacht, das kann nicht gutgehen, rufen sie sogleich und haben es im Nu entdeckt – das heimliche Einverständnis der Unpolitischen mit den Politikern. Der schändliche Asylkompromiß ist die Wahrheit, die hinter den Millionen Kerzen lauert. Ertappt, entlarvt, erledigt. Die Gefahr für das eigene Gemüt ist abgewehrt. Die Deutschen sind doch schlecht.

Wer nicht redet, wird interpretiert. Auch von den Optimisten. Sie streicheln die Demonstranten sanft. Endlich die lang vermißte Urgründung der BundesREPUBLIK Deutschland. Im Gegenreflex gegen die Rechtsextremen machen die Deutschen, nach dieser Lesart, ihre Französische Revolution. Geht’s nicht auch ein bißchen kleiner?

Bei allen wichtigen Debatten findet derzeit eine falsche Polarisierung statt. Bei der Zuwanderungsproblematik wird um den Artikel 16 gerungen und das Einwanderungsgesetz vergessen. Bei den Blauhelmeinsätzen geht es nur um die Frage: Dürfen die Deutschen? Anstatt für den möglichen Einsatz der Bundeswehr die Demokratisierung der UNO einzufordern. Die Debatte über den neuen Energiekonsens droht sich schon jetzt um die Sofortigkeit des Ausstiegs aus der Atomenergie zu gruppieren, anstatt das Energiesparen in den Vordergrund zu stellen. Es ist immer dasselbe Prinzip: Ideologische Dispositionen der Achtziger verhindern vernünftige Lösungen für die Neunziger.

Bernd Ulrich, 22. 12. 1992