die taz vor 19 jahren über die mai-krawalle in kreuzberg und den rot-grünen senat :
Berlins Innensenator ist ein politisch erfahrener Mann und Realist. Doch auch Realisten scheinen bisweilen einen Hang zur Romantik zu haben. Daß man mit einer Strategie zur „Deeskalation“ Krawall in Kreuzberg vermeiden könnte, war eine Hoffnung, nicht nur des Innensenators. Wer an den Satz „Ohne Bullen kein Krawall“ glaubte, wurde in der Nacht zum 2. Mai 1989 eines Besseren belehrt. Der Krawall war gewollt, gewünscht, gesucht und gut organisiert. Daran konnte der Innensenator nichts ändern. Und auch jene nicht, die bislang noch glaubten, vielleicht ein Zipfelchen Einfluß auf die Militanten und die latent zur Gewalt Bereiten zu haben. Die, und dazu zählt auch die AL, sind die Verlierer dieser Nacht. Sie müssen erkennen, daß ihre sozialromantischen Vorstellungen vom Widerstand dem Märchenbuch entspringen.
Die Deeskalationsstrategie als gescheitert zu erklären, weil trotzdem Steine und Mollis geflogen sind, zeugt von einem mechanischen Weltbild. Der Kreuzberger Konflikt ist militärisch nicht zu lösen. Die Wenn-dann -Logik greift hier nicht. Das, was sich in der Nacht an Aggression, Langeweile, Abenteurertum und Eigennutz geäußert hat, wird die Politik noch lange beschäftigen. Die Ursachen jetzt wieder in Armut, Arbeitslosigkeit zu suchen ist ebenso formelhaft und zu kurz gegriffen, wie der Krawall ritualisiert ist. Nein, die Deeskalationsstrategie von Innensenator Pätzold war erfolgreich. Nicht unmittelbar, denn er konnte den Krawall nicht verhindern. Doch er konnte beweisen, daß die Polizei in der Lage ist, mit mehr als Schlagstöcken zu agieren. Und er hat erreicht, daß Linke nicht länger die Augen zumachen. Kreuzberg ist nicht mehr wie vorher. Der 1. Mai 1989 hat einen Bruch in die bislang vorhandene diffuse Solidarität mit den Krawallen gebracht. Wenn die Rechte jetzt das Scheitern von Rot-Grün konstatiert, ist das nur erwartbar. Doch über diesen 1. Mai wird Rot-Grün nicht stolpern. An diesem 1. Mai wird Rot-Grün wachsen. Brigitte Fehrle, taz vom 3. 5. 1989