die stimme der kritik: betr.: Funsport, Sport & Spaß
Die Übertreibung ist die Schwester der Wahrheit
Die Woche war schön.
„Viele Dinge sind explosionsartig entstanden und haben sich dann potenziert“ (Christoph Daum). Vor zwei Jahren hatte Renate Künast etwa noch als schräge Inlineskaterin posiert. Angetan mit einem Allerlei an bunten Formen passiver Radikalbewaffnung wie Ellenbogen-, Unterarm-, Schienbeinschützern und Kopfhelm in den abstoßenden Farbtönen der Postvereinigungszeit. Sie hatte ausgesehen wie aus dem Otto-Versandhaus-Katalog, in dem es mittlerweile übrigens auch „Sexspielzeug“ zu bestellen gibt, oder wie ein Modell aus der AOK-Zeitung Bleib Gesund.
Alles nur, um den Regierenden Bürgermeister von Berlin zu toppen, der auf eigens für ihn angefertigten Joggingschuhen durch den Grunewald zu rennen pflegte und die folgende Wahl dann auch gewann. Danach hatte man von dem ewig jungältlichen Bürgermeister nichts mehr gehört. Andere Sportler verdrängten ihn: der Außenminister auf seinem langen Weg nach Belgrad, der Rad fahrende Verteidigungsheini, der ab und an stürzte – und immer wieder Jürgen Möllemann, der bekanntlich („Projekt 18“!) ja eher Funsport-orientiert ist.
Letztes Jahr im Frühling war die „Kreuzberger Kodderschnauze“ (Künast) dann mit der Produkteinführung von Alu-City-Roller-Glidern beauftragt worden; eine schwierige Aufgabe, die die passionierte Nichtraucherin mit der Punkfrisur mit Bravour löste. Innerlich errötet man zwar immer noch vor Scham, wenn man erwachsene Menschen auf dieser albernen Aboprämie, diesem lächerlichem Kindergefährt vorbeirollern sieht. Der Erfolg allerdings gibt der Grünen Recht: Verkauft wurden Millionen, wenn nicht gar Dutzende.
Was soll’s. Man wählt die Grünen ja nicht, weil sie nonchalant durch angenehm trostlose Gegenden flanieren, sondern weil sie fürs Gute sind, und übrigens stehen der Ministerin ihre entschlossenen Augenringe ganz ausgezeichnet! Das soll hier ausdrücklich betont werden. Und außerdem ist es ja auch nicht so viel geschmackloser, in peinlichen Prä- und Afterworkgeräten wie Renate Künast zu posieren, als ganz nackt, wie eigentlich alle Berliner Politiker unter vierzig in den letzten Jahren. „Die Übertreibung ist“ übrigens „die Schwester oder der Bruder der Wahrheit, wie Werner Hansch eben sagte“, wie Christoph Daum auf seiner schönen Pressekonferenz treffend bemerkte.
DETLEF KUHLBRODT
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