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die ortsbegehungIndustrial Chic meets Villa Kunterbunt

Die Gemüsewerft in Bremen zieht neben Kohl und Rüben auch Hopfen und braut Bier. Dass sie auch ein soziales Projekt ist, ist auf einen ersten Blick gar nicht sichtbar

Möhren und Hopfen gehören zu den Pflanzen, die auf dem ehemaligen Hafengelände der Gemüsewerft wachsen Illustration: Jeong Hwa Min

Aus Bremen Eiken Bruhn

Ein paar Strünke ­Grünkohl stehen Anfang November in einer der Holzkisten vorn am Zaun, weiter hinten wächst Salbei, schießt Fenchel ins Kraut. Aber in vielen der 425 Hochbeete ist die dunkel-krümelige Erde von fein geharkten Wellen durchzogen: Hier liegt die Saat für die nächste Saison.

Auch das Rankgerüst im Hopfenfeld steht nackt: Vor zwei Monaten haben Freiwillige und Beschäftigte der Bremer Gemüsewerft – so heißt der Garten in der Bremer Überseestadt – 140 Kilo Hopfen geerntet. Er wird nebenan in einer kleinen Brauerei verarbeitet. Das Bier kann man im Sommer auf Podesten zwischen den Hochbeeten trinken. Vielleicht zu Tomaten aus dem Gewächshaus: grünen, gelben, lilanen, roten, orangenen.

Die Gemüsewerft ist aber nicht nur Biergarten und urbane Landwirtschaft im Westentaschenformat. Sondern auch ein soziales Projekt, betrieben von der gemeinnützigen Gesellschaft für integrative Beschäftigung, kurz „Gib“. Deren Geschäftsführer Michael Scheer erklärt vor Ort das Prinzip: Behinderte und psychisch schwer kranke Menschen bekommen ein geringes Gehalt fürs Gärtnern, den Verkauf von Gemüse, Jungpflanzen oder Getränken. Es wird, anders als der Lohn vieler anderer Beschäftigungsverhältnisse, nicht mit der Sozialhilfe verrechnet.

Rund 300 Euro im Monat – das ist etwas mehr, als Beschäftigte von Behindertenwerkstätten verdienen, obwohl diese mehr arbeiten. Auf der Gemüsewerft sind zwei Stunden am Tag die Mindestanforderung. Viel mehr schaffen die meisten nicht. Das Geld sei der Anreiz, hier zu arbeiten, sagt Geschäftsführer Michael Scheer. „Aber sie bekommen noch mehr.“ Tagesstruktur, soziale Kontakte, eine Bedeutung, die über das bloße Sein hinausgeht. „Das, was uns erst fehlt, wenn wir es nicht mehr haben.“

Lkw-Parkplatz des Kelloggs-Werks

Die Gemüsewerft ist ein Zuverdienstbetrieb, das heißt, die Kommune zahlt die Gehälter. In Bremen gibt es rund 400 solcher Jobs. Zwölf Männer und drei Frauen arbeiten derzeit unter Anleitung eines Gärtners auf der Gemüsewerft, auf 9.000 Quadratmetern an drei Standorten. 2015 ging es los, 2019 kam als jüngste Fläche der ehemalige Lkw-Parkplatz des geschlossenen Kelloggs-Werks samt Pförtnerhäuschen hinzu. Für das Hopfenfeld und drei Bäume wurden 400 der 1.500 Quadratmeter entsiegelt.

Dieses dreieckige Grundstück wird auf einer Seite von der Spundmauer zur Weser begrenzt. Der Blick hinunter auf den Fluss und in den Sonnenuntergang hinein ist in Bremen einmalig. Im Rücken steht die Kulisse des zum Hotel umgebauten Kelloggs-Silos und des abgerissenen und mit ähnlicher Fassade neu aufgebauten Reislagers. In dessen Erdgeschoss befindet sich die Brauerei samt Ausschank, ein Italiener und bis vor Kurzem ein Bioladen mit Mittagstisch. In einem der Büros darüber werfen an diesem grauen Novembertag zwei junge Bärtige auf eine Dartscheibe.

Industrial Chic meets Villa Kunterbunt – der Ort ist dermaßen fotogen, dass die „Popularitätsrakete“ der Gemüsewerft, wie Michael Scheer es nennt, seit Eröffnung des jüngsten Standorts so richtig gezündet hat. 400 Medienberichte und Blogbeiträge hat er gezählt. Bremen wirbt mit Plakaten auf Bahnhöfen mit dem Projekt. Ihm würden ständig neue Flächen angeboten, und er habe aufgehört, die Anfragen zu beantworten von Leuten, die eine coole Location für ihre Veranstaltung suchen. „Das geht mit unseren Leuten gar nicht, die müssen um 21 Uhr den letzten Bus kriegen.“

Echte Begeisterung statt Mitleid

Nix wie hin

Die Besonderheit

Die Gemüsewerft liegt in den ehemaligen Bremer Häfen in einem 250.000 Quadratmeter großen Quartier, in dem erneuerbare Energien eingesetzt werden sollen. Der Investor hat der Gemüsewerft das Grundstück günstig verkauft. Andere Urban-Gardening-Projekte haben oft nur temporäre Nutzungsrechte und können keine Gärtner:innen anstellen. Bei der Gemüsewerft ermöglicht dies die Kons­truktion als Zuverdienst­betrieb.

Das Zielpublikum

Menschen, die alte Gemüsesorten, Sonnenuntergänge, Palettenmöbel, Inklusion oder Biergärten mögen.

Hindernisse auf dem Weg

Die Gemüsewerft ist umzingelt von Baustellen. Manchmal ist der Zugang kurz versperrt, bis ein Bagger vorbeigefahren ist.

Doch das ist vielen Be­su­che­r:in­nen vermutlich gar nicht bewusst. Es gibt keinen Hinweis, wer hier arbeitet, jedenfalls keinen, der ins Auge springt. „Hier steht nirgends ‚Vorsicht! – Verrückte‘ “, sagt Michael Scheer und grinst. Das ermögliche echte Inklusion. „Niemand wird aufgrund einer Behinderung mit Samthandschuhen angefasst.“ Die Beschäftigten würden davon profitieren, glaubt er. „Sie spüren, dass sie Teil einer tollen Sache sind.“ Statt paternalistischem Mitleid schlage ihnen echte Begeisterung und Neugier entgegen. Umgekehrt dürften Be­su­che­r:in­nen der Gemüsewerft keine Servicementalität erwarten. „Es kann passieren, dass man vollgequatscht wird oder eine Person wegläuft, die man etwas fragen möchte.“

Glatt und gefällig ist nichts an der Gemüsewerft, auch äußerlich nicht. Da stehen in einer Ecke zwei rostigrote Container, über ihnen eine Hochebene, darunter Gerümpel, neben dem Hopfenfeld stapeln sich Paletten. Der Kontrast zu den Gebäuden, die bereits stehen, und denen, die gegenüber geplant sind, könnte kaum größer sein.

Die Gemüsewerft war als Erste hier, eine Pionierpflanze, deren Namen niemand kennt, gewachsen in einer Asphaltritze. Michael Scheer sagt, sie werde für immer hier bleiben. Denn Unkraut – das vergeht nicht.

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