piwik no script img

crime sceneMonster und Martyrien

Eigentlich schreibt Paulus Hochgatterer keine Krimis. Aber was soll man denken von einem Roman, in dem all diese Dinge passieren: Eine alte Frau erstickt fast an Katzenfutter, das ihr jemand in die Kehle geschoben hat. Ein alter Mann wird übel zusammengeschlagen, tut aber so, als sei er beim Obstpflücken von der Leiter gefallen. Ein weiterer Alter wird bewusstlos und mit einer üblen Kopfwunde auf der Straße aufgefunden. Dann wird auch noch ein zehnjähriges Mädchen entführt. Und das alles innerhalb weniger Tage in einer beschaulich in den Bergen gelegenen Kleinstadt, in der außerdem zwei unbekannte Graffiti-Künstler das Haus eines korrupten Politikers und Unternehmers über Nacht mit einem gigantischen Kunstwerk besprüht haben.

Business as usual in Furth am See? So will es fast scheinen, denn gemächlicher als die Polizei in Hochgatterers Roman hat sich wohl noch niemals eine fiktive Ordnungsmacht gegen schadenbringende Umtriebe gestemmt. Eher wird der Eindruck vermittelt, als würden die Kommissare kriminelles und gewalttätiges Verhalten als unvermeidbare Begleiterscheinung menschlichen Zusammenlebens hinnehmen. Wobei es sich natürlich um eine bewusste Darstellungsverzerrung handelt; denn die zusammenhängende Darstellung einer sogenannten Handlung ist es eben, was Hochgatterer eloquent vermeidet. Es ist ein gleichsam unvollendetes, aber atmosphärisch hochgradig verdichtetes Erzählmosaik, das er nach und nach vor uns ausbreitet; doch auch von „erzählen“ mag man kaum sprechen, ist dieser Roman doch so konsequent aus Figurenperspektive geschrieben, dass die Anwesenheit einer Erzählinstanz auch nicht ansatzweise spürbar wäre. All die Figuren, aus deren unterschiedlichen Blickwinkeln wir die Geschehnisse nach und nach wahrnehmen, sind jeweils so sehr in ihr eigenes Dasein eingesponnen, dass Querverweise sich nur allmählich erschließen. Angefangen beim Kommissar selbst, der zum einen nur eine unter vielen Romanfiguren ist und dessen Gedanken zum anderen weit mehr um private Befindlichkeiten kreisen als um den Fall, mit dem er hauptsächlich befasst sein sollte (und immerhin ist ein Kind verschwunden!).

Daneben steuert eine Sozialarbeiterin, die in einem Jugendzentrum arbeitet, ihre Sicht der Dinge bei; und dann noch ein Psychiater vom örtlichen Krankenhaus. Dieser ist der Einzige, der die Möglichkeit hätte, eins und eins zusammenzuzählen, da in seinem Umfeld verschiedene Fäden zusammenlaufen. Doch auch er zieht überwiegend seine privaten kleinen Gedankenkreise. Und zwischen all diesen in ihrer Weltsicht ganz gewöhnlich eingeschränkten Figuren taucht immer wieder ein außergewöhnlicher, unheimlicher Ich-Erzähler (der einzige) auf: der Kindesentführer (oder etwa die Entführerin?), der mit der Entführung des zehnjährigen Mädchens ganz offensichtlich ein Martyrium exorziert, das er selbst einst im örtlichen Kinderheim hat erleiden müssen. Dass die Vorkommnisse in diesem Heim auch mit den gewalttätigen Anschlägen auf die alten Menschen zu tun haben, erschließt sich den handelnden Personen zwar nach und nach. Ob aber irgendjemand in der Lage sein wird, rechtzeitig weitere notwendige Schlüsse zu ziehen, bleibt offen.

Paulus Hochgatterer: „Fliege fort, fliege fort“. Deuticke Verlag, München 2019, 304 Seiten, 23 Euro

Das Extreme, das Monströse erwächst in der engen, beschränkten Lebenswelt der Kleinstadt quasi ganz natürlich aus dieser Enge und Beschränktheit. Wo Anderssein sanktioniert wird, kommt Hilfe oft zu spät und sind Übertretungen eine fast notwendige Folge. Während die meisten kriminellen Handlungen im Roman gewissermaßen gezielte Vergeltungsschläge darstellen, ist der anonyme Ich-Erzähler mit der Kindesentführung in den Bereich des unbegründbar Monströsen getreten. Es schmerzt, wie Hochgatterer diesen Handlungsstrang (der sicher nicht zufällig an den Fall Natascha Kampusch erinnert) unaufgelöst ins Leere laufen lässt. Mit menschlichen Abgründen, das merkt man, kennt sich der Autor aus. Schließlich ist er im Hauptberuf Psychiater. Katharina Granzin

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen