brief des tages:
Trauma im Kindererholungsheim
„Und dann darf ich endlich heim“, taz vom 8. 6. 20
Vermeintlich gewaltfrei aufgewachsen, begreife ich (geboren 1965) heute, dass meine fünfwöchige „Verschickung“ kurz vor der Einschulung eine traumatische Erfahrung war. Zwar habe ich an das Heim im schwäbischen Bad Imnau keine schlechten Erinnerungen, auch die Fotos von damals lesen sich eher positiv. Eltern und Kinderarzt hatten mich für zu dünn befunden und verschickt. Lebenslang hadere ich nun mit latentem Übergewicht. Mit welchem Blick man mir damals „Untergewicht“ attestierte, kann ich nur mutmaßen: Waren es die langsam ins Bewusstsein sickernden Bilder halbverhungerter KZ-Häftlinge? Waren es die Fotos aus Biafra? Die zentrale Frage war – wie in vielen anderen Themen meiner Kindheit – sicherlich Scham: „Was sollen denn die Leute denken?“ Und eine nicht geringe Rolle mag die unreflektierte Übernahme von Empfehlungen gespielt haben, welche die wohlmeinenden Erwachsenen Erziehungsratgebern entnahmen, die, in der Nazizeit geschrieben, teilweise bis in die 80er Jahre – nur gering modifiziert – wiederholt neu aufgelegt wurden. Axel Bielenberg-Sidow, Bad Schönborn
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