berliner szenen: Local Hero reitet nicht mehr
Fahlgelb geht im Großstadt-Smog die Sonne überm Landwehrkanal unter. Über die Kottbusser Brücke preschen Blaulicht und Sirenen im Sekundentakt. Verwahrloste Obdachlose krakeelen, Händler schreien auf dem Türkenmarkt. Auf dem Pflaster wimmelt es von Ratten.
Dies war neben Syros die Wahlheimat des feinen Wieners Michel Würthle. Zum Schluss fand er den Kiez zum Kotzen. Neulich zu Lebzeiten orderte er abends einen Kutscher, „a Taxi“. Elegant reitet der Marlboro-Man wie ein Westernheld in seine Paris Bar. Gewöhnlich in feinstem gewienertem Schuhwerk, im maßgeschneiderten Zwirn. Legendär Michels 40 Jahre lange Punk-Dandy-Performance als Paris-Bar-Patron, ein Hecht im Karpfenteich. Zuletzt schaffte er es noch, abgemagert bis aufs Skelett, im schlabbrigen Jogginganzug zum Edeka.
Seit einer Woche ist es totenstill auf der lauten Brücke. Michel Würthle, der Cowboys liebte, hat ins Gras gebissen.Täglich lief ich am Paul-Lincke-Ufer unter seiner Wohnung vorbei. Mit flauem Gefühl hochgeschaut in seine Fenster. Licht an? Licht aus? Vorgestern sah ich ein Grablicht vor seiner Haustür. Solchen Kitsch hätte Michel gehasst. Ein junger Maler, mit dem er befreundet war, fragt mich, ob er Leichen im Keller hatte, dass er so leiden musste. Ein Heiliger war der Local Hero nicht, „Geh scheissn“ sagte er gern, und: „Wos mit Ficken hier?“, schrie er manchen Frauen hinterher. „Im Vollrausch“, erzählt Künstlerfreund Rolf Behm, „hat er mal den alten Galeristen Rudolf Springer angepinkelt. Unflätigkeiten gehörten zu seinem Repertoire.“ Blitzschnell habe Springer damals ganz fest zugegriffen und Michel den Hahn abgedreht. Auch wenn er mir mal den Finger gebrochen hat – Michel hat uns mit Tausenden köstlichen Berliner Szenen reich beschenkt. Cowboys only cry when their horses die. Guido Schirmeyer
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