Brasilien: Rückfall in brutale Zeiten
Angriffe auf Expräsident Lula da Silva und seine Anhänger, das tödliche Attentat auf die linke Stadträtin Marielle Franco, die Ermordung von landlosen Bauern: Die zunehmende politische Gewalt in dem südamerikanischen Land geht in erster Linie auf das Konto der übermächtigen Agrarlobby.
von Anne Vigna
Fast zwei Jahre ist es her, dass die brasilianische Präsidentin Dilma Rousseff vom Bundessenat ihres Amts enthoben wurde. Seit diesem Vorgang, den die Linke von Anfang an als „parlamentarischen Putsch“ bezeichnet hat, scheint das Land in längst überwunden geglaubte Zeiten zurückzufallen.
Auch in der Vergangenheit war es an der Tagesordnung, dass sich lokale Machthaber, sogenannte Coronéis und Bandeirantes, Störenfriede mit Gewalt vom Hals hielten. Heute sind diese Störenfriede Linke und Arme, in erster Linie Landlose, die ungenutzte Flächen besetzen. Schließlich müssten diese Flächen laut der in der Verfassung verankerten Agrarreform bereits umverteilt sein.
Während das Land am 13. Mai der Abschaffung der Sklaverei im Jahr 1888 gedenkt, feiert im brasilianischen Fernsehen ein markantes Symbol dieser traurigen Ära seine Wiederkehr: die Lederpeitsche. Großgrundbesitzer geißelten am 22. März im Süden des Landes Aktivisten der Landlosenbewegung (Movimento dos Sem Terra, MST), die auf die Fahrzeugkolonne von Expräsident Luiz Inácio Lula da Silva warteten. Die Senatorin Ana Amélia Lemos von der rechtskonservativen Partido Progressista (PP) lobte anschließend ausdrücklich diese „echten Gauchos mit ihren schwingenden Peitschen“.
Expräsident Lula, der seit dem 7. April in Haft ist, konnte während seiner 50-jährigen Karriere als Gewerkschafter und Politiker stets ohne Bedenken in Brasilien umherreisen. Doch im März dieses Jahres traf er plötzlich auf Straßenblockaden, die bewaffnete Milizen errichtet hatten. Sie wollten verhindern, dass es dem Präsidentschaftskandidaten mit seiner Kampagne gelang, die Bevölkerung zu mobilisieren, um seiner Gefängnisstrafe zu entgehen. Ihm drohen 12 Jahre Haft wegen Bestechlichkeit und Geldwäsche.
Großgrundbesitzer verhöhnen Recht und Gesetz
Das Urteil gegen Lula wird nicht nur von der Linken angeprangert, sondern auch von 122 brasilianischen Juristen, die in einer Artikelsammlung nachzuweisen versuchten, dass die Anklage gegen Lula eher auf den Überzeugungen des Richters denn auf Beweisen beruhte.[1]
Ende April kam es zu einem weiteren Angriff auf Anhänger Lulas. In der südbrasilianischen Stadt Curitiba wurden zwei seiner Unterstützer angeschossen, einer von ihnen wurde von einer Kugel im Nacken getroffen und liegt seitdem schwerverletzt im Krankenhaus.
Die polizeilichen Ermittlungen zu den Schüssen auf Lulas Wahlkampfkonvoi vom 27. März haben ergeben, dass die Schützen von Leandro Bonottos Fazenda kamen. Der Großgrundbesitzer kämpft seit den 1990er Jahren hartnäckig gegen das MST und die Landumverteilungen der staatlichen Siedlungs- und Agrarreformbehörde (Instituto National de Colonização e Reforma Agrária, Incra).
Ein Zufall? Wohl kaum. Alle Angriffe auf Lulas Fahrzeugkolonne wurden von Großgrundbesitzervereinigungen geplant, die offen zu gewalttätigen Aktionen gegen das MST aufrufen. So kündigte auch Gedeão Ferreira, Vorsitzender des Landwirtschaftsverbands von Rio Grande do Sul, in seiner Antrittsrede an: „Wir werden Widerstand gegen die Landlosenbewegung und das Incra leisten. Das einzige Ziel ihrer Besetzungen besteht darin, den ländlichen Agrarproduzenten ihr Eigentum zu nehmen.“[2]
Nachdem Ferreira Incra-Mitarbeitern den Zutritt zu seinen Ländereien verweigert hatte, wurde er 2002 wegen „Ungehorsams gegen die Justiz“ und „Aufforderung zu Straftaten“ verurteilt, 2003 sprach ihn das Regionalgericht in Porto Alegre jedoch wieder frei. Es war dasselbe Berufungsgericht, das im Januar dieses Jahres Lula für schuldig erklärt hat.
„Brasilien ist ein extrem gewalttätiges Land mit einer rekordverdächtigen Mordrate. Aber anders als in Kolumbien oder Mexiko betrifft dieses Phänomen bei uns traditionell nicht die Politik“, sagt Mauricio Santoro, der an der Universität Rio de Janeiro Politikwissenschaft lehrt. „Im selben Monat, in dem die Schüsse auf Lulas Konvoi fielen, wurde die linke Stadträtin Marielle