: Zwischen Zarentum und Oligarchie
Rußlands Präsident wird heute zur Lage der Nation sprechen und ein paar Politikerköpfe rollen lassen. Die Macht im Lande aber bleibt konsolidiert, korrumpiert und ungeniert ■ Aus Moskau Klaus-Helge Donath
Kehrt Boris Jelzin für längere Zeit in die Politik zurück? Zumindest wird Rußlands Präsident heute vor dem Parlament, der Staatsduma, den jährlichen Bericht zur Lage der Nation halten. Acht Monate verbrachte Jelzin seit seiner Wiederwahl in den Kreml auf dem Krankenlager, nur selten gestatteten ihm die Ärzte einen Ausflug in die Politik. Ängste und Bedenken, das riesige Reich würde in ein Machtvakuum fallen, Diadochen rücksichtslos die Erbmasse an sich reißen, haben sich nicht bestätigt. Weder putschte die höchst unzufriedene Armee, noch zwangen Arbeiter, die monatelang auf ihre Löhne warten, die Regierung Wiktor Tschernomyrdins in die Knie. Die grundlegenden Regulative der Politik versagten nicht, und die unterschiedlichen Zirkel und Zentren der Macht hielten sich an die allgemeinen Geschäftsbedingungen. Eigentlich müßte der Präsident mit den Ergebnissen zufrieden sein. Zeugen sie doch von einer gewissen Konsolidierung, deren Fundament er gegossen hat.
Statt dessen wird Jelzin vor der Duma „Kaleika“ machen – wie es seinem Charakter entspricht – und eine Reihe Köpfe rollen lassen. Schließlich gilt es zu zeigen, daß nur er trotz aller Unpäßlichkeiten die Entscheidung über Sein oder Nichtsein fällt. Verteidigungsminister Igor Rodionow gehört zu den ersten Opfern. Allzu deutlich hat der General zu verstehen gegeben, daß er die Armeereform nicht gegen die Interessen seiner Klientel durchsetzen kann oder will. Wohl das gleiche Schicksal droht den Chefs so undankbarer Ministerien wie Arbeit und Soziales. Sie müssen dafür geradestehen, was Regierung und Premier nicht geschafft haben, der Zahlungskrise Herr zu werden. Es fehlt ganz einfach ein Konzept. Womöglich wechselt auch Jelzins Stabschef, Anatoli Tschubais, als Vizepremier in die Regierung über, um Premier Tschernomyrdin, der im Amt bleibt, auf die Finger zu schauen und gelegentlich eine Idee einzuhauchen.
Zumindest soll frischer Wind simuliert werden. Denn die Stimmung im Volk ist eher resignativ. Von den reichsten und ärmsten zehn Prozent der Bevölkerung verlangten jeweils 41 Prozent in einer Umfrage, es müsse dringend etwas geschehen. Sahen im August nur elf Prozent der Jugendlichen freudlos in die Zukunft, waren es Ende des Jahres schon alarmierende vierzig Prozent.
Umbesetzungen im Kabinett täuschen nicht darüber hinweg, daß mit der Konsolidierung eine beunruhigende Stagnation einhergeht, die an die Zeiten des senilen Generalsekretärs Leonid Breschnew erinnert. Auch damals wucherte die Allmacht der Bürokratie, Provinzbosse wandten sich unzufrieden vom Zentrum ab, während die Bevölkerung immer tiefer in Apathie versank.
Rußlands politische Elite döst im Winterschlaf. Kardinale Fragen wagt keiner zu entscheiden oder hält es nicht für wichtig. Seit langem sind die Reformen festgelaufen. Armee- und Bodenreform packt auch in diesem Jahr niemand mehr an. Im günstigsten Fall läßt sich vor Erosion schützen, was bisher erreicht worden ist. Die Chance, die relative Konsolidierung der Macht zu nutzen, um institutionelle Voraussetzungen für einen Aufschwung zu schaffen, reizt offenbar niemanden. Obgleich in absehbarer Zeit nicht einmal ein Wählervotum ansteht. Auf den Etagen der Macht haben sich Interessengruppen aus Rohstoffproduzenten, Finanzen und Banken, Medien und Generalität komfortabel eingerichtet. Der blutige Kampf um Einflußsphären ist erst einmal ausgefochten. Drohungen und Korruptionsvorwürfe verfehlen in diesem Kreis ohnehin den Adressaten. Sämtliche Tabus sind längst gebrochen. Im Februar wurde Innenminister Kulikow, dem es nicht gelang, in mehrjähriger Amtszeit ein einziges Kapitalverbrechen aufzudecken, mit dem Posten eines Vizepremiers belohnt. Er soll nun auch noch der Wirtschaftskriminalität zu Leibe rücken. Im Unterschied zur Armee erhielten seine Polizeitruppen immerhin reichlich Mittel.
Von der Opposition aus Kommunisten und Nationalisten im Parlament ist die Macht nicht bedroht. Im Gegenteil: Die Opposition verhält sich willfährig. Aggressive Rhetorik ist eher für das Fußvolk draußen im Land bestimmt. Vergebliche Liebesmüh. Mögen die Kommunisten noch so sehr danach trachten, sich an die Spitze der sozialen Proteste zu mogeln. Die Streiks finden meist ohne sie statt. Wieder klafft eine Schere zwischen dem Volk und seinen gewählten Vertretern, wieder nimmt man unten Macht und Korruption als die beiden Seiten ein und derselben Medaille wahr. „Alles hat sich geändert, und doch ist alles beim alten geblieben“, stellen viele verblüfft fest.
Was sich an echter Opposition noch halten konnte, die liberaldemokratische Partei „Jabloko“ um Grigori Jawlinski, gerät spürbar ins politische Abseits. Das System schottet sich hermetisch ab. Es nimmt nicht nur neue Kräfte nicht in seine Reihen auf, sondern hemmt offenbar auch deren Wachstum in der Gesellschaft. Halfen früher neue Leute aus der Provinz, die verkrusteten Strukturen der Hauptstadt aufzulockern, findet diese Frischzellenzufuhr heute kaum noch statt. Erfolgreiche regionale Politiker zieht es nicht ins Zentrum. In der Provinz ist derzeit mehr herauszuholen. Die Provinzfürsten koppeln sich von Moskau ab. Der Hauptstadt fällt es immer schwerer, in die Provinz hineinzuregieren.
Als Präsident Jelzin wiedergewählt wurde, erwartete keiner von ihm einen neuen Reformschub. Die Wähler wären zufrieden gewesen, wenn er den Status quo hätte erhalten können. Er sollte Supervisor und Schiedsrichter sein, um Interessen auszugleichen und die Gesellschaft vor ihrem zerstörerischen Potential zu retten.
Der Präsident hat auch die bescheideneren Erwartungen enttäuscht. Die nächsten Wochen werden zeigen, ob er überhaupt noch die Kraft und den Willen zur Veränderung hat. Wenn nicht, wird sich die Verfassung, die ihm nach Maß geschneidert wurde, als Gefahrenquelle erweisen. Sie öffnet der Willkür nämlich Tür und Tor. Als sein Vermächtnis sollte der Präsident dem Land ein Grundgesetz hinterlassen, das die Macht gerechter verteilt und mit der Tradition endgültig bricht. Rußland braucht weder einen Zaren noch eine Oligarchie.
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