bücher für randgruppen : Zwischen Resignation und Weisheit: Eine Kulturgeschichte des Alters
Kürzlich prophezeite Bild unter der Überschrift: „So alt werden Sie“ den 75- bis 76-jährigen Männern, dass sie etwa 64 Jahre alt würden. Dieser Wahnsinn ist regelmäßig in www.BILDblog.de zu lesen. Deshalb ist es gut, zu wissen, warum der neue Grünen-Pressesprecher vorher als Bild-Redakteur tätig war. Laut Renate Künast sei der Beweis für Christoph Schmitz’ Qualifikation, dass er aus komplizierten Analysen und Konzepten einfache Botschaften machen könne. Zudem soll es bei Bild und B.Z. ja inzwischen von Mitarbeitern wimmeln, die heimlich rot oder grün wählen. Tatsächlich: Eindeutig taz-inspiriert wirkte die „Frauen-Bild“ zum diesjährigen Frauentag. Oder die „Künstler-B.Z.“ im Dezember, in der die aktuellen Lügen des Blatts willig von marktmäßig abgestürzten Altmeistern wie Baselitz, garantiert talentfreien No-Name-Malern oder aktuellen Hype-Stars wie Norbert Bisky illustriert wurden. Mit Sicherheit erscheint irgendwann eine rosa gedruckte Gay-Bild-Sonderausgabe zum Christopher Street Day. Sollte das Springer-Imperium allerdings vorher so überraschend wie Swiss Air oder die DDR implodieren, werden wir Zeuge eines gewaltigen Outings sein: Revolutionäre IMs und Widerstandskämpfer werden berichten, am Zerfall des Systems subversiv mitgewirkt und so das Schlimmste verhindert zu haben.
Auf jeden Fall scheint es etwas mit dem Alter zu tun zu haben, wenn Endvierziger plötzlich davon reden, dass sie einst glaubten, Faschisten bekämpfen zu müssen, sich heute aber lieber über Hundescheiße am eigenen Schuh empören. Es geht offensichtlich darum, zu betonen, in der Wirklichkeit angekommen zu sein.
Ob es aber tatsächlich so ist, dass die Welt im Alter klarer wird, oder ob das eigene Denken lediglich verhärtet und resigniert, das bleibt die Frage. Die englische Wissenschaftlerin Pat Thane hat sich ausführlich mit der Geschichte des Alters beschäftigt. In ihrem kulturgeschichtlichen Exkurs geht sie mit anderen Historikern hartnäckigen Stereotypen des Alters in Europa und der europäischen Diaspora auf den Grund. Das Werk präsentiert eine hervorragende Bildauswahl, die von der antiken Skulptur bis zum Lucian-Freud-Gemälde reicht. Als Comic dargestellt findet sich beispielsweise das Stereotyp der stumpfsinnigen Realität eines Frauenlebens von Kindheit = Spielzeug bis Alter = Einsamkeit, wie auch das Klischee einer immer älter werdenden Gesellschaft.
Thane klärt, ab wann ein Mensch als alt gilt und galt, räumt mit Lebenserwartungsstatistiken auf und beschreibt soziokulturelle Zusammenhänge, mit denen Alter definiert wird. Dabei entpuppen sich Vorstellungen wie „Früher wurden die Alten von ihren Kindern versorgt und lasen ihren Enkeln Geschichten vor“ als Märchen. Problematisch sei es auch, auf der Basis von Überlieferungen antiker Literatur und Kunst die damalige Realität einzuschätzen, erläutert Tim Parkin. Das Bild des Alters reiche hier von der Missachtung des Alters bis zur Darstellung des weisen Herrn, während sich die Rolle der alten Frau dagegen häufig auf die der bösen Hexe oder der Trinkerin beschränke.
Gelegentlich doppeln und überschneiden sich die Gedanken der Autoren. Aber das stört nicht, im Gegenteil: Es vernetzt die spannenden, informativen Aufsätze. So entsteht ein differenziertes, klärendes Bild. Pat Thane schafft durch ihre Auswahl viel Raum für eigene Gedanken, ohne in Unverbindlichkeit abzugleiten. Das Alter wird nur dann respektiert, so Cicero, wenn es sich Unabhängigkeit und Kontrolle über das eigene Leben bis zum letzten Atemzug bewahrt.
Mir fiel da die 98-jährige Frau Reinhold aus Kreuzberg ein, mit der ich kürzlich zu Kaffee und Kuchen verabredet war. Sie wünscht sich folgende Inschrift auf ihrem Grabstein: „Komm, Wanderer, steh und weine. Hier ruhen meine Gebeine. Ich wünschte mir, es wären deine.“ Cicero würde staunen. WOLFGANG MÜLLER
Pat Thane (Hrsg.), „Das Alter“. Primus Verlag, Darmstadt 2005, 320 Seiten, 250 Abb., 39,90 €