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Archiv-Artikel

Zwischen Kreuzberg und Provence

Nicht nur die taz berlin wird 25, sondern auch das Kerngehäuse in der Cuvrystraße. Seiner Besetzung widmete der Berlin-Teil am 3. November 1980 die erste Titelgeschichte. Eine Ortsbesichtigung am Jubiläumstag auf den Spuren vom Wandel der Zeit

von WALTRAUD SCHWAB

Dorf in der Stadt, Oase im Kiez, Idylle im Ghetto – die Leute vom Kerngehäuse im hintersten Teil Kreuzbergs unweit der Grenze zu Friedrichshain lassen sich solche Vergleiche gerne gefallen. Auf ihrer Jubiläumsparty am Dienstagabend prosteten sie sich und ihrer Enklave gar zu. Denn die Geschichte, die vor 25 Jahren mit der Besetzung des 4.500 Quadratmeter großen Fabrikgebäudes begann, scheint vorerst positiv ausgegangen zu sein.

„Wir sind gut durch das Vierteljahrhundert gekommen“, sagt Herman Hola. Der Architekturmodellbauer, Surfbretthersteller und Spielwarenerfinder lebt und arbeitet fast genauso lange in der robusten Backsteinfabrik.

Dort wurden Kindernähmaschinen produziert, bevor die Immobilie vor 30 Jahren zum Spekulationsobjekt wurde. Denn wie in den 70er-Jahren üblich, ließen die Hausbesitzer – trotz Wohnungsnot in Westberlin – die alte Fabrik leer stehen und rechneten nach deren Abriss mit öffentlichen Subventionen für den Neubau. Der ganze südöstliche Zipfel von Kreuzberg sollte, so wollten es die damaligen Planungen, von einer Autobahn zerpflügt oder mit Mietskasernen bestückt werden. Dass es anders kam, hat ein wenig mit der Einsicht der Berliner Politiker zu tun und viel mit den Protestbewegungen jener Zeit. Die Hausbesetzungen gehörten dazu.

Heute dümpelt das Kerngehäuse noch immer im Hafen jener Ideale, der sich die einstigen fundamental oppositionellen HausbesetzerInnen verschrieben haben: gegen Profitgier, Atomkraft, Rassismus und Patriarchat, für Konsumverzicht und Selbstverwirklichung. In der Praxis gilt das alles nicht mehr so richtig, aber als Idee wird es von den ungefähr 60 BewohnerInnen samt Kindern sowie den mehreren Dutzend Leuten, die im Kerngehäuse arbeiten, noch immer geliebt. „Am Anfang teilte man alles“, erinnert sich Hola. „Davon ist man heute weg. Man muss Verantwortung auch zuordnen können. Das schafft man auf Dauer im Kollektiv nicht.“ Auch der Modellbauer ist mittlerweile Alleinunternehmer.

Nur eine alte Prämisse gilt bis jetzt: Der Gebäudekomplex, einst mit Krediten der alternativen „Stiftung Umverteilen“ erworben, darf nicht verkauft werden. Noch hält diese Vorgabe, wobei die derzeitige Vereinsstruktur vor einer Palastrevolution nicht schütze, wie Hola meint.

Am Anfang gehörte übrigens neben Antikapitalismus auch „Gebärstreik“ zu den revolutionären Imperativen. Dieser löste sich am schnellsten in Wohlgefallen auf. Rudolf Braun, seines Zeichens Schreiner, der zu den Initiatoren der Besetzung gehörte und seine Werkstatt noch immer im Kerngehäuse hat, gesteht verschmitzt, dass er einer der Ersten war, der Vater wurde – „von Zwillingen“. Während er nicht mehr hier wohnt, weil Arbeiten und Leben unter Plenumszwang für ihn den Reiz verloren hatten, sind seine Töchter im Kerngehäuse geblieben. Die elterliche Wohnung ist jetzt ihr Studentendomizil. Aus der Distanz beobachtet er, wie sie das Rad neu erfinden. Ganz erschöpft kämen sie von den gemeinsamen Sitzungen. Anders als er würden die Töchter auch die taz lesen, meint Braun, als gäbe es zwischen dem neu zu erfindenden Rad und dem Blatt einen Zusammenhang.

Ausgerechnet die taz und das Kerngehäuse, wo sich noch immer erstaunlich viele aus der Anfangszeit tummeln, die nun zur Väter- und Müttergeneration gehören und alle die Zeitung schon lang nicht mehr lesen (zu links, zu rechts, zu grün, zu wenig radikal, zu wenig chic, zu wenig radikaler Chic), müssen in dieser Jubiläumsausgabe miteinander auskommen. Das hat was mit Nostalgie zu tun. Denn der allererste Aufmacher in der Berliner Lokalausgabe vor 25 Jahren lobte die Entschlossenheit der BesetzerInnen des Gebäudes. Gemeinsam wurde die Faust gereckt.

Und heute? Was Verwunschenes hat die backsteinerne Enklave in den Hinterhöfen der Cuvrystraße 20–23 noch immer. Dort zeigt sich, dass dem Sammelsurium der Dinge, die über die Jahre ihren Platz gefunden haben, ein Zauber innewohnt. Da lehnen Fahrräder an Metallskulpturen unbekannter Künstler. Da überwuchern Kletterpflanzen alte Treppengeländer, die zu verglasten Gemächern in ausgebauten Remisen führen. Da stehen Tische und Bänke im Herbstregen. Obwohl nur das Wasser in den Pfützen plätschert, schwingt Kindergeschrei mit. Da gibt es offene Schuppen, in denen Holz lagert, Boote und altes Metall. Da sind verwilderte Gärten und Spielplätze. Und was sich wie ein Schmied anhört, ist das Schlagen der Holzbrikettmaschine in der Schreinerei. Die zusammengepressten Spanblöcke werden sofort verheizt, um Strom zu bereiten. Denn das Kerngehäuse ist energietechnisch autark. Blockheizkraftwerke, Solaranlage, alles da.

„Ich hab das Kollektiv optimal nutzen können. Man hilft sich gegenseitig“, resümiert Hola, der Modellbauer. Dann zählt er die Betriebe auf, die es hier gibt: Klempnerei, Druckerei, die Kantine, die Sprachenschule, „ein Institut für irgendwas“, Taxikollektiv. „Martin hat auch ein Büro. Der macht was mit Beleuchtung.“ Dazu ein Steuerberatungsbüro, ein Aufnahmestudio, andere, das Ratibor-Theater natürlich auch. „Ich bin hier zu Hause, das ist wichtig für mich.“

Dass seine Liebeserklärung ans Zuhause allerdings einen Wandel zulässt, das kündigt sich bereits an. Denn Hola, gebürtiger Tschechoslowake, der 1969 elfjährig mit seinen Eltern nach Berlin kam, baut sich mit seiner französischen Lebensgefährtin derzeit in der Provence ein Haus.

Überhaupt Wandel: Der findet hinter der Fassade statt. Da wird nicht alles sichtbar. „Letztes Jahr haben wir unser Kollektiv, eine GmbH war’s, aufgelöst“, sagt Braun. Jetzt arbeiten die Schreiner als Einzelunternehmer in der Werkstatt. „Das Modell der Neutralisierung des Kapitals funktioniert in der Wirklichkeit eben nicht so gut wie in der Fantasie“, meint der Schreiner. Wolle man nach ein paar Jahren Arbeit aus dem Projekt aussteigen, stehe man mit nichts da, obwohl man das gemeinsam aufgebaut habe. Ob man aber als alter Mensch, der geblieben ist und keine Rücklagen hat, vom Kollektiv aufgefangen wird, das müsse sich erst noch zeigen. „Ich fände es besser, wenn wir eine Genossenschaft wären.“ Eine andere Braun’sche Erkenntnis: „Rechtsfreie Räume dürfen nicht mit hierarchiefreien Räumen verwechselt werden.“

Bei Babylonia, der Sprachenschule im Kerngehäuse, wird Letzteres ganz anders gesehen. Hier geht es nur vordergründig um Vokabeln, Satzbau und Grammatik. Bei Babylonia ist die Sprache das Vehikel, um Kultur und Politik zu erklären. Aber weder staatstragende Politik noch Kulturklischees sind gemeint, sondern Alltag, Überlebenskampf, die Sprache der Unterdrückten. Hierarchien passten nicht dazu. „Wir sind gemeinnützig, wir machen keinen Profit, wir sind ein Kollektiv“, zählt José Guterrez die drei Credos auf. „Bei uns macht jeder alles. Jeder darf Einblick in die Arbeit des anderen nehmen.“ Der gebürtige Spanier ist fast seit Anfang an dabei und einer der vehementesten Verteidiger der hehren Ansprüche. Von „letzter Bastion“ spricht er und davon, dass „das Kerngehäuse nie wahnsinnig politisch war“.

Dabei wird selbst bei Babylonia „das Spannungsfeld zwischen Professionalisierung und politischem Anspruch auf die härteste Probe gestellt“, wie Guterrez sagt. Er meint damit die zunehmende Schwierigkeit, genug Leute zu finden, die bereit sind, sich für die politische Idee, selbst auszubeuten. Ob er enttäuscht sei? „Nein, ich hätte es mir nur anders gewünscht.“