: Zweite Wahl
Zur Regierungsbildung in der DDR ■ K O M M E N T A R E
Das atemlose Keuchen, mit dem historische Stunden ausgerufen wurden, hat schon vor der Wahl am 18. März aufgehört. Die Regierungsbildung jedenfalls hat für niemanden mehr den Rang eines historischen Ereignisses. In den bundesrepublikanischen Medien werden jetzt die Koalitionsverhandlungen mit dem zweideutigen Wohlwollen kommentiert, das seinerzeit den Demokratieübungen der Schülermitverwaltung zugestanden wurde. Es wird klein gehandelt, was unter großen, ja historisch einzigartigen Ansprüchen steht. Und das ist erstaunlich. Diese Regierung steht unter einem doppelten Anspruch: Sie nimmt die Ergebnisse eines revolutionären Umsturzes in die Regierungsverantwortung, muß die Umgestaltung eines ganzen Gesellschaftssystems verantworten. Sie muß weiterhin ein Gesamtinteresse der DDR-Bevölkerung definieren, da sie und niemand anderes verantworten wird, unter welchen Bedingungen die DDR Teil eines künftigen Deutschlands wird. Das hätte doch zumindest die Einsicht mit sich bringen sollen, daß schon in der Regierungsbildung ein Konsens gesucht wird, der über die bloße Wahlarithmetik hinausgeht. Denn das Wahlergebnis selbst sagt schließlich mehr über die Wünsche an Bonn als über die Interessen gegenüber Bonn aus. Es hätte wenigstens der Versuch gemacht werden müssen, die Besten des Landes - diejenigen, die mit einigem Recht und einiger Autorität auch die Stimme des Volkes sein könnten einzubeziehen.
Aber nichts deutet darauf hin, daß auch nur ein Schatten dieser Erkenntnis in den Koalitionsverhandlungen eine Rolle spielt. Die Verhandler schweigen gegenüber der Öffentlichkeit. Eine schwache Regierung entsteht da, in der nur um die starken Positionen geschachert wird. Nicht eine Partei hat sich um Personen eigener Autorität bemüht. Die zweite Wahl, die Umbruchgewinnler, Wendehälse, die Matadoren der zweiten Stunde kämpfen um die Sessel. Der künftige Innenminister Diestel (DSU) hält weder etwas von einer Verfassungsdiskussion in der DDR noch von einer demokratischen Bewältigung des Stasi-Problems. Er ist aber qua Amt zugleich Verfassungsminister. Das ist gewiß eine bedrückende personalpolitische Vorentscheidung, aber zugleich auch eine Entscheidung, die die Überzeugungskraft und Konsensfähigkeit der künftigen Regierung schwer in Mitleidenschaft ziehen wird.
Schon jetzt rächt sich, wie dünn und fremdbestimmt die programmatischen Grundlagen der Koalitionsparteien sind. Das gestern veröffentlichte Papier, das als Koalitionsvertrag verbreitet wurde, zeigt jedenfalls deutlich die Misere: Maximalforderungen und schwammige Grundsätze fürs Regierungsprogramm gehen einher. Es wird die Gleichzeitigkeit von Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion gefordert, zugleich die Bestandswahrung sozialer Errungenschaften eingeklagt. Maximalistische Formeln, die nichts über eine Verhandlungslinie aussagen. Diese Regierung wird weder große Glaubwürdigkeit gegenüber der DDR ausstrahlen noch Souveränität gegenüber Bonn. Der deutschlandpolitische Grundnebel hat zugenommen.
Klaus Hartung
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