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Zwei Tage Europa

„Den haben wir bestellt, als die Buchmacher noch den Brexit voraussagten“, sagt Martin Sonneborn, Kopf der Partei Die Partei und seit zwei Jahren frak­tions­loses Mitglied des EU-Parlaments. Klingt da Resignation mit? „Es wird keinen Brexit geben. Ich bin pessimistisch.“ Die Desillusionierung des ehemaligen Titanic-Chefs sitzt tief: „Ich kam hier als überzeugter Europäer an. Aber je mehr ich mich damit auseinandersetze, desto skeptischer stehe ich diesem Gebilde gegenüber. Das Europaparlament schafft gute Bedingungen für Wirtschaft und Finanzindustrie, und der kleine Mann und seine Frau fühlen sich zurecht nicht mehr repräsentiert.“ Selbst die Vorhut des nationalstaatlichen Rollbacks scheint korrumpiert: „Es gibt hier Ukip-Leute, die gegen den Brexit stimmen, weil ihre Partei ihre Daseinsberechtigung aus der Opposition zur EU bezieht.“ +++ 21 Uhr, London, Stadtteil Islington, Hanover Primary School. Eine Menschentraube – offenbar allesamt Journalisten – vor dem Eingang des Wahllokals von Boris Johnson. Drei Jungen in Hoodies fahren vorbei und brüllen: „Fuck the EU, fuck Boris!“, dabei war der noch gar nicht da. +++ 21 Uhr, Brüssel, Altiero-Spienelli-Gebäude. Sonneborns Cham­pagner ist leer. Seine Gäste, rund 50 Menschen, begeben sich auf die Place Lux – Place Luxembourg – wo sich wie an jedem Donnerstagabend Anzugträger und Gitarrenhippies vermischen. Zwischen zwei Gewitterschauern hat sich ein Regenbogen über dem Parlament installiert. +++ 22.57 Uhr, Brüssel, Europaviertel, Bar Funky Monkey. Vor allem Briten sitzen zusammen, kurz vor Schließung der Wahllokale. Die letzten Minuten werden heruntergezählt. Noch sechs, noch fünf. Menschen vor dem Großbildschirm. Polls have closed. Gegen 23.20 Uhr die erste Nachwahlbefragung von YouGov: 52 % In, 48 % Out. Zaghaft jubelt jemand, eine Faust schiebt sich für einen Moment in die Luft. +++ 23 Uhr, London. Millbank Tower, 29. Stock. Die Party der Brexit-Befürworter Vote Leave.EU, die Halle ist moderat voll. Raymond Finch, EU-Parlamentarier der EU-feindlichen Partei Ukip, sagt, er hoffe, dass er heute seinen Job verliere und einen echten bekomme. Man müsse auf die Arbeiterklasse hören und souverän werden. Im Hintergrund singt die Band – alle Mitglieder sind Schwarze, im Gegensatz zu allen anderen hier – „Wishing on a Star“. Zwei Sicherheitskräfte unterhalten sich auf Polnisch, zwei der vielen Polen, die die Freizügigkeit innerhalb der EU nutzen und in Großbritannien Arbeit gefunden haben. Einer von ihnen witzelt: „Noch reden die Leute hier mit mir.“ +++ Freitag, 24. 6., 0.12 Uhr, Brüssel, Bar Funky Monkey. Mark Gray steht auf der Terrasse, noch immer Wetterleuchten. Der 45-jährige Brite wundert sich. Über diese Wahl, die so einen Einfluss auf sein Leben hat – er arbeitet für die EU- Kommission im Bereich interinstitutionelle und internationale Beziehungen – und bei der er doch Statist ist.

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